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Der Jade-Pavillon

Der Jade-Pavillon

Titel: Der Jade-Pavillon
Autoren: Heinz G. Konsalik
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ist ein kranker Mann; paß auf, daß sein Tod nicht auch dein Ende ist. Such dir eine anständige Arbeit, lege ein Reisfeld an oder ein Gemüsebeet.«
    Chang war bis in seine Seele beleidigt. Das ganze Haus ließ er räumen, überblickte dann die Familie des Alten und zählte sechs ängstliche, zitternde Köpfe, darunter auch einen Enkel von neun Jahren. Er ließ das Dorf absuchen, bis ein Rotgardist das fand, was Chang suchte: eine lange Eisenstange, vorne etwas zugespitzt. Ein kräftiges Holzfeuer wurde entzündet, die Stange in das Feuer gelegt, bis die Spitze glühte und man die Stange nur noch mit Zangen anfassen konnte. Chang ließ sie zu einem großen Felsstein tragen, nahm einen großen Hammer, und während drei Rotgardisten die Eisenstange festhielten, schmiedete er mit kräftigen Schlägen eine lange Spitze.
    An das Folgende erinnerten sich die Rotgardisten nur mit einem kalten Schauer. Sie hatten viel Grausames auf ihrem Zug durch die Dörfer der Miao- und Dong-Minderheiten gesehen, von deren Herkunft man nur wenig wußte, die aber seit Jahrhunderten in China lebten und als Chinesen galten – was sie jetzt erlebten, wurde in ihrem Herzen eine Wunde, deren Narbe sie bis ans Ende ihres Lebens drücken würde.
    Während die Rotgardisten die Familie umringten, ihnen die Arme nach hinten rissen und sie festhielten, spießte man als ersten den Dorfältesten auf. Die noch rotglühende Spitze durchbohrte den dünnen, flachen Greisenkörper wie einen Schwamm, die Eisenstange fuhr durch ihn hindurch, und der Alte schrie nicht, gab keinen Ton von sich, sondern sah Chang mit seinen brechenden Augen nur demutsvoll an. Und so wie er wurde die ganze Familie auf diese Eisenstange gespießt, und die Frau schrie, und der Enkel kreischte, aber es gab bei Chang kein Mitleid.
    Als sie alle am Spieß hingen, schleifte man die noch Lebenden zum nahen Fluß und warf sie in das träge strömende Wasser. Mit unbewegter Miene stand Chang am Ufer und blickte den Wegtreibenden nach. Von da an hatten die Rotgardisten einen großen Respekt vor dem Kommissar Chang, und wo man sich früher zuflüsterte: »Was will er bei uns? Wir sind die kleinen Generäle Maos, wir können uns selbst befehligen«, sagte man jetzt: »Es ist gut, daß er da ist. Er riecht die Klassenfeinde.«
    Chang lief seinem Trupp voraus die Treppe hinauf und erreichte als erster die Anhöhe, auf der das Schulhaus und das Haus des Lehrers standen. Ein alter Mann fegte mit einem Reisigbesen den Flur der Schule, von dem die Klassenzimmer abgingen, ein Zimmer für die Schüler der Unterklassen, ein Zimmer für die älteren Schüler. Chang sah noch, wie das kleine Mädchen im Lehrerhaus verschwand, er hörte sogar ihre Alarmrufe, und ehe er noch vier Schritte weitergegangen war, trat ein Mann in dem üblichen blauen Arbeitsanzug vor die Tür. Die Rotgardisten hatten nun auch den Platz erreicht und blieben an der Schule stehen. Der fegende alte Mann war plötzlich verschwunden, der Besen lag weggeworfen im Eingang.
    Huang Keli war kein kräftiger, aber auch kein schmächtiger Mann. Er sah aus, als treibe er viel Sport; sein schwarzbehaarter Kopf war rund, die Haut gebräunt, und wenn man die anderen Miao-Männer mit ihm verglich, war er sogar groß mit seinen ein Meter siebenundsiebzig. Fatal war nur, daß er eine Brille trug. Ein einfaches Drahtgestell.
    Ohne Zögern kam er auf Chang, der stehengeblieben war, zu, verneigte sich leicht und sagte das übliche »Willkommen! Willkommen!« Und dann, nach einem kurzen Zögern: »Es freut mich, Sie zu sehen.«
    Chang mißfiel das Zögern sofort, er hatte es bemerkt, so kurz es auch war. Bei einem Menschen, der willkommen ist, zögert man nicht.
    »Du bist der Lehrer?« fragte Chang mit harter Stimme.
    »Es ist so, Genosse. Ich bin Huang Keli. Möchten Sie die Schule besichtigen?«
    »Wie viele deiner Schüler können die Worte des Großen Vorsitzenden Mao auswendig?«
    Während er die Frage stellte, hatte er aus seiner Uniformtasche das kleine rote Buch gezogen und schwenkte es durch die Luft. In den Städten und größeren Ortschaften war es selbstverständlich, daß jeder diese Mao-Bibel besaß und mit sich herumtrug wie ein drittes Ohr oder ein drittes Auge; sogar die, die nicht lesen konnten, hatten es in der Tasche. Nur in den Dörfern und erst recht in den Behausungen der Minderheitenvölker fand man das rote Büchlein selten. Zwar hatten Kolonnen von Funktionären das Buch verteilt, bei jedem Kommunevorsitzenden hatten
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