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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker
Autoren: Elizabeth Kostova
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selbst in der Abgeschiedenheit seines Büros spräche. Dann wieder hielt er plötzlich inne und fixierte seine Studenten mit einem intensiven Blick, einer beredsamen Geste, einer erstaunlichen Erklärung. Er ignorierte das Rednerpult, verachtete Mikrofone und benutzte nie irgendwelche Notizen, auch wenn er mitunter ein paar Dias zeigte, wobei er die große Leinwand mit dem Zeigestock traktierte. Manchmal erregte er sich so, dass er beide Arme hochriss und über die Bühne rannte. Die Legende ging, dass er einmal in seiner Verzückung über die blühende griechische Demokratie von der Bühne gestürzt sei, sich aber gleich wieder aufgerappelt habe, ohne die Vorlesung auch nur für eine Sekunde zu unterbrechen. Ich habe mich nie getraut, ihn zu fragen, ob das stimmte.
    Heute war er in einer nachdenklichen Verfassung und schritt mit den Händen hinter dem Rücken auf und ab. »Sir Arthur Evans, bitte denken Sie daran, restaurierte den Palast des Königs Minos in Knossos zum Teil anhand der Dinge, die er dort vorfand, und zum Teil, indem er der eigenen Vorstellung folgte, seiner Vision, wenn man so will, wie die minoische Zivilisation ausgesehen haben mochte.« Er starrte in das Gewölbe über uns. »Die Quellen waren mager, und er hatte es vor allem mit Fragen zu tun. Statt sich aber nun auf das bestehende Wissen zu beschränken, benutzte er seine Fantasie, um einen geradezu atemberaubend vollständigen Palast zu schaffen – und erlitt Schiffbruch. Hätte er nicht so verfahren dürfen?«
    Hier machte er eine Pause und blickte fast sehnsüchtig über die See struppiger Haare, widerspenstiger Wirbel und Igelschnitte, gewollt schäbiger Blazer und ernster junger Studentengesichter (in jener Zeit waren nur männliche Studenten zu dieser Universität zugelassen, auch wenn du dich, liebe Tochter, heute voraussichtlich überall wirst einschreiben können). Fünfhundert Paar Augen starrten zurück. »Denken Sie über diese Frage nach.« Rossi lächelte, drehte sich abrupt weg und trat aus dem Licht der Scheinwerfer.
    Seine Zuhörerschaft holte hörbar Luft: Die Studenten begannen zu reden und zu lachen und sammelten ihre Besitztümer ein. Rossi setzte sich wie gewöhnlich nach Ende der Vorlesung auf die Rampe, und einige der eifrigeren Studenten eilten nach vorn, um ihm Fragen zu stellen. Die beantwortete er mit Ernst und Humor, bis auch der letzte Fragende befriedigt war. Dann ging ich zu ihm und begrüßte ihn.
    »Paul, mein Freund! Kommen Sie, gehen wir die Füße hochlegen und Holländisch reden.« Er klopfte mir warmherzig auf die Schulter, und wir verließen den Hörsaal.
    Rossis Büro amüsierte mich immer, weil es dem Bild, das man sich vom Arbeitszimmer eines zerstreuten Professors machte, so grundsätzlich widersprach: Die Bücher standen in ordentlichen Reihen in den Regalen, eine sehr moderne kleine Kaffeemaschine nahe beim Fenster sorgte für ausreichend Kaffee, die Pflanzen, die seinen Schreibtisch schmückten, waren immer gut gegossen, und er selbst war stets gepflegt gekleidet, trug Tweedhosen und ein makelloses Hemd mit Krawatte. Sein Gesicht war ein typisch englisches, klare Linien mit tiefblauen Augen. Wie er mir einmal erklärte, hatte er von seinem Vater, einem Italiener, den es aus der Toskana nach Sussex verschlagen hatte, nur die Liebe zu gutem Essen geerbt. In Rossis Gesicht spiegelte sich eine Welt, die so bestimmt und geordnet war wie der Wachwechsel vor dem Buckingham Palace.
    Mit seinem Geist war es etwas völlig anderes. Selbst noch nach vierzig Jahren strengen Forschens und Lernens schäumte er über mit Fragen an die Vergangenheit und brütete über ungelösten Problemen. Seine enzyklopädische Produktion hatte ihm längst Beifall weit über die akademische Welt hinaus eingebracht. Kaum dass er ein Werk beendet hatte, wendete er sich dem nächsten zu und wechselte dabei oft unvermittelt die Richtung. Das Ergebnis war, dass ihn Studenten aller denkbaren Fachrichtungen aufsuchten, und ich konnte mich glücklich schätzen, ihn zum Doktorvater bekommen zu haben. Zudem war er der gütigste, warmherzigste Freund, den ich je gehabt hatte.
    »Nun«, sagte er, schaltete die Kaffeemaschine ein und wies mit der Hand auf einen Stuhl, »wie entwickelt sich Ihr Opus?«
    Ich klärte ihn über meine Arbeit während der letzten Wochen auf, und wir hatten einen kurzen Disput über den Handel zwischen Utrecht und Amsterdam im frühen siebzehnten Jahrhundert. Er servierte seinen ausgezeichneten Kaffee in zarten
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