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Der Historiker

Der Historiker

Titel: Der Historiker
Autoren: Elizabeth Kostova
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erschaudert. »Gott schütze uns vor solcher Ketzerei«, sagt er schnell. »Ich bin sicher, mein Sohn, dass Ihr der Versuchung widerstanden habt.«
    Dracula lächelt. »Ihr wisst, wie sehr ich Bücher liebe.«
    »Es gibt nur ein wahres Buch, und dieses eine Buch müssen wir von ganzem Herzen und mit unseren Seelen lieben«, sagt der Abt, aber gleichzeitig ist er unfähig, seine Augen von der vernarbten Hand des Fürsten zu wenden, die über den mit einer Einlegearbeit geschmückten Griff des Schwertes streicht. Dracula trägt einen Ring am Mittelfinger. Der Abt betrachtet ihn nicht genauer, er kennt den wilden Schwung des Symbols darauf nur zu gut.
    »Kommt.« Zur großen Erleichterung des Abtes ist Dracula die Debatte leid und steht unvermittelt auf. Voller Kraft steht er da. »Ich will Ihre Schreiber sehen. Ich werde bald schon einen besonderen Auftrag für sie haben.«
    Gemeinsam gehen sie in das kleine Scriptorium, in dem drei der Mönche nach alter Weise Manuskripte kopieren, und einer schneidet Lettern, um eine Seite des Lebens des heiligen Antonius zu drucken. Die Druckerpresse steht in einer Ecke. Es ist die erste ihrer Art in der Walachei, und Dracula fährt stolz mit der Hand darüber, seiner schweren, kantigen Hand. Der älteste der Mönche steht an einem Pult neben der Presse und schnitzt an einem Stück Holz. Dracula beugt sich zu ihm. »Was wird das, Vater?«
    »Der heilige Georg, wie er den Drachen tötet, Exzellenz«, murmelt der alte Mönch. Die Augen, die er anhebt, sind verhangen, versteckt hinter buschigen weißen Brauen.
    »Lieber sollte der Drache die Ungläubigen töten«, sagt Dracula mit einem Lachen.
    Der Mönch nickt, aber der Abt erschaudert ein weiteres Mal.
    »Ich habe einen besonderen Auftrag für dich«, erklärt Dracula dem Alten. »Ich werde eine Skizze für dich beim Herrn Abt zurücklassen.«
    Im Sonnenlicht des Hofes bleibt er stehen. »Ich bleibe zur Messe und werde die Kommunion mit Euch empfangen.« Er schenkt dem Abt ein Lächeln. »Habt Ihr heute Nacht ein Bett in einer Zelle für mich?«
    »Wie immer, mein Fürst. Dieses Haus Gottes ist Euer Haus.«
    »Und jetzt lasst uns hinauf in meinen Turm gehen.« Der Abt kennt dieses Ritual seines Schutzherren gut. Dracula lässt vom höchsten Punkt der Kirche gern den Blick über See und Ufer gleiten, als hielte er nach Feinden Ausschau. Er hat gute Gründe, denkt der Abt. Die Osmanen sind seit Jahr und Tag hinter seinem Kopf her, der König von Ungarn trägt keinen geringen Groll gegen ihn in sich, und seine eigenen boyari hassen und fürchten ihn. Gibt es überhaupt jemanden, der nicht sein Feind ist, sieht man von den Bewohnern dieser Insel einmal ab? Langsam folgt der Abt Dracula die Wendeltreppe hinauf und macht sich auf das Läuten der Glocken gefasst, das bald schon einsetzen wird und dort oben sehr laut ist.
    Der eckige Turm hat lange schmale Öffnungen zu jeder Seite. Als der Abt oben ankommt, steht Dracula bereits an seinem Lieblingsplatz und blickt über das Wasser, die Hände in der typischen Haltung hinter dem Rücken verschränkt, wie er sie beim Nachdenken und Pläneschmieden einnimmt. Der Abt hat gesehen, wie er vor seinen Kriegern stand und ihnen die Taktik für die Schlacht am nächsten Tag erklärte. Er sieht absolut nicht aus wie ein Mann, der ständig in Gefahr schwebt – ein Führer, dessen Tod stündlich eintreten konnte und der keinen Moment verstreichen lassen sollte, über die Frage seiner Erlösung nachzudenken. Im Gegenteil, denkt der Abt, er sieht aus, als läge alles noch vor ihm.
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