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Der Hirte (German Edition)

Der Hirte (German Edition)

Titel: Der Hirte (German Edition)
Autoren: Richard Dübell
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du, dass das einer aus dem Rudel ist, das euch angegriffen hat?"
Rainald gab dem Kadaver einen leichten Tritt. Er erinnerte sich an den Aufprall des Wolfs; er hatte ihn nicht einmal ins Wanken gebracht.
"Nein", sagte er. "Das ist ein Einzelgänger. Seht ihn Euch an - nur Haut und Knochen. Uralt. Wohin immer er gehört hat, sie haben ihn ausgestoßen, als er nicht mehr mithalten konnte. Der ist nur zufällig auf uns gestoßen."
"Ich dachte, du hättest ihn für einen Späher gehalten und wolltest verhindern, dass er zum Rudel zurückkehrt."
"Nein", sagte Rainald.
"Du hast ihn sogar absichtlich angelockt. Wahrscheinlich hättest du ihn mit einem Schneeball vertreiben können."
"Ja."
"Warum hast du das getan?"
Rainald antwortete nicht. Er schob das Schwert zurück in die Scheide, stieg über den toten Wolf hinweg und kniete sich neben Blanka nieder.
"Du brauchst keine Angst mehr zu haben. Das Biest ist tot."
"War er böse?"
"Ja."
"Er sieht gar nicht böse aus", sagte Blanka zum dritten Mal. Rainald wechselte unwillkürlich einen Blick mit Johannes und fühlte sich merkwürdig erleichtert, als der Junge mit den Schultern zuckte und ein Gesicht zog, das zu sagen schien: Hör nicht drauf. Er richtete sich auf und klopfte Blanka unbeholfen auf die Schulter.
"Du brauchst keine Angst mehr zu haben", wiederholte er.
Die Wölfe suchten sich diesen Moment aus, um erneut zu heulen.

***

Der Wald endete so abrupt, dass es klar war, jemand hatte ihn bis hierher gerodet und dann aufgegeben. Das Gelände fiel steil zum Fluss ab, durchsetzt mit den geduckten Formen der Baumstümpfe, die auf der windzugewandten Seite unter einer Schneehülle versteckt waren. Rainald blieb stehen und musterte den Abhang, den schmalen Streifen flachen Ufers, das mit einem schmalen Eissaum in das breite schwarze Band des Flusses auszugreifen begann … die grauen, braunen und mattgrünen Farben des Waldes behaupteten sich überall dort, wo keine Rodungen vorgenommen worden waren, griffen an den schneebedeckten, baumlosen Flächen links und rechts vorbei und schoben sich bis an den Fluss vor. Am jenseitigen Ufer war die geräumte Fläche noch enger, lag wie ein zerrissenes Tuch um den einen mächtigen Baum herum, der stehengelassen worden war und um den sich das Ankerseil der Fähre wickelte. Das Gierseil hing im Fluss und wippte in der Strömung, furchte eine Querrille aus Spritzern hinein. Die Straße von und zur Stadt wand sich auf dieser Seite heran, die Schneedecke darauf unberührt. Die Wölfe hatten schon vor einiger Zeit zu heulen aufgehört. Das Schweigen rauschte in Rainalds Ohren. Die halb verwehten Baumstümpfe sahen aus wie kauernde Tiere, bereit, jederzeit aufzuspringen. Rainald ertappte sich dabei, wie er versuchte, Löcher in den Schnee zu starren.
„Wo ist die Fähre?“, keuchte Schwester Venia neben ihm.
„Hinter der Hütte. Man sieht sie nicht von hier aus.“
Damals hatte er sie auch nicht gesehen. Aber die Hütte war etwas gewesen, in dem man in Deckung gehen und sich auch gegen eine Übermacht eine Weile verteidigen konnte, die Bewohner waren vermutlich Bauern, die sich in einer Ecke zusammenkauern und ihn nicht behelligen würden. Es war Spätsommer gewesen, der Fluss tiefblau, der Wald auf der anderen Seite staubig grün, der Schmerz und die Wut in Rainalds Herz noch immer so wach, als wären nicht bereits sechs Monate vergangen gewesen, seit sein Leben zertreten worden war, hinter ihm die Rufe und das Wiehern der Verfolger. Er hatte das Schwert gezogen und war hinuntergesprengt, bereit für sein letztes Gefecht – dann hatte er erkannt, dass hinter der Hütte eine Fähre im Fluss hing und dass er sich mit Hilfe der Fährleute in Sicherheit bringen konnte.
„Wir sind in Sicherheit“, sagte er und brachte ein Grinsen zustande. Blanka hielt sich an Johannes’ Hand fest und sah ihn erschöpft an. „Gehen wir.“
Er war bereits zwischen den Baumstümpfen, als er merkte, dass die anderen nicht nachkamen.
„Hier stimmt was nicht“, sagte Johannes.
Rainald biss die Zähne zusammen. „So?“, sagte er, und mit dem Tonfall seiner Stimme hätte man tatsächlich ein Loch in den Schnee brennen können.
„Leute, die so einsam leben, haben bestimmt Hunde. Wo sind die Hunde? Sie müssten uns wittern!“
„Die Hunde sind drin und wärmen sich den Pelz am Feuer.“
„Und es gibt nirgendwo um die Hütte herum Spuren. Wenn das eine Fähre ist, dann leben dort doch mindestens drei oder vier Menschen, Papa. Warum sieht man keine
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