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Der Hinterhalt

Der Hinterhalt

Titel: Der Hinterhalt
Autoren: Trevor Shane
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erfahren, dass sie nicht allein waren. Es war wichtig für sie zu erfahren, dass es noch andere gab, andere, die auf ihrer Seite waren, andere, die mit denselben Problemen zurechtkommen mussten wie sie, andere, die wie sie ein Leben voller Angst und Hass erwartete. Matt richtete den Blick auf den Jugendlichen, in dessen Haus wir uns befanden. »Ryan«, sagte er, als sei er ein alter Freund der Familie, »wie wär’s, wenn du den Anfang machst?«
    Ryan stand auf. Er war groß und kräftig, wirkte athletisch. Aber er war nervös. Er steckte eine Hand in die Hosentasche seiner Jeans, um sie daran zu hindern, dass sie zitterte. »Hi, ich heiße Ryan. Ich bin fünfzehn und werde in zwei Monaten sechzehn. Ich wohne hier, und ich spiele Football.« Football. Wenn Matt nicht im Begriff gewesen wäre, Ryan eine Gehirnwäsche zu verpassen, hätte dieser wahrscheinlich äußerst beliebt sein können. Vielleicht hätte er später einmal der Star seiner Alumni-Jahrestreffen sein können. Vielleicht hätte er das Herz einer Cheerleaderin erobern können. Vielleicht. Das Mädchen zu seiner Linken meldete sich als Nächste zu Wort. »Hallo, ich heiße Charlotte. Ich bin gerade sechzehn geworden und spiele Geige.« Charlotte sah den anderen Jugendlichen ins Gesicht, während sie sprach. Als sie fertig war, ließ sie den Blick schnell wieder in ihren Schoß sinken. Die nächsten fünfzehn Minuten ging es so weiter: Rob, der Eishockeyspieler; Steve, der Präsident des Highschool-Naturwissenschaftsclubs; Joanne, Mitglied der Theatergruppe. Diese Jugendlichen kannten sich nicht. Genau aus diesem Grund waren sie sorgfältig ausgesucht worden. Auch wenn sie Freunde hatten, die auf unserer Seite waren, durften diese es nicht wissen. Jared und ich hätten eigentlich auch nicht wissen sollen, dass wir beide ein Teil des Kriegs waren. Dass wir es herausgefunden hatten, war purer Zufall.
    Nachdem die Jugendlichen sich vorgestellt hatten, fuhr Matt fort. »Okay, mir ist klar, dass ihr nervös seid. Ihr seid aus zwei Gründen nervös. Zum einen seid ihr nervös, weil ihr nicht wisst, warum ihr hier seid. Zum anderen habt ihr eine Vermutung, warum ihr hier seid, und es macht euch nervös, dass ihr mit eurer Vermutung womöglich recht habt. Ihr wisst alle, dass ihr anders seid. Ihr wisst, dass euer Leben anders ist als das eurer Freunde. Das spürt ihr. Ich weiß, dass ihr euren Eltern im Lauf der Jahre Fragen gestellt habt, die sie euch nicht beantworten wollten. Nun, ich möchte euch zunächst versichern, dass sie eure Fragen nicht beantworten wollten, um euch zu schützen.« Matt machte eine Kunstpause. »Ich bin hier, weil sich für euch bald alles ändern wird. Unwissenheit wird euch dann nicht mehr schützen. Ich bin hier, um euch die Wahrheit zu sagen.«
    Die Wahrheit? Das Wort drängte sich in mein Bewusstsein. Es klang dort für einen Augenblick nach, dann verhallte es, bevor ich zu lange darüber nachdenken konnte. Matt kam direkt zur Sache. »Wie viele von euch hatten einen nahen Angehörigen, der ermordet wurde?« Sechs der acht Jugendlichen hoben die Hand. Matt hob ebenfalls die Hand. Ich hätte es auch tun können, entschied mich jedoch dagegen. »Wie viele von euch haben einen Elternteil verloren?« Drei von acht. Als die Jugendlichen die Hand hoben, blickten sie sich im Zimmer um, ihr Gesichtsausdruck eine Mischung aus Furcht und Verwunderung. Namen, Clubs, Sportarten – nichts von alledem verband diese Jugendlichen. Der Tod war das, was sie verband, was uns alle verband.
    »Seltsam, findet ihr nicht?« Matt nickte. »Tja, es ist meine Aufgabe, euch heute zu sagen, wer eure Eltern getötet hat« – Matt nahm Blickkontakt mit den drei Jugendlichen auf, die einen Elternteil verloren hatten – »und eure Angehörigen« – er hob den Kopf und ließ den Blick durchs Zimmer schweifen. Dann schaltete er den Beamer ein, den er an seinen Laptop angeschlossen hatte. Er projizierte ein Bild an die leere weiße Wand. Alle Jugendlichen starrten gebannt auf das Foto vor ihnen. Das hatten sie nicht einmal in ihren wildesten Träumen erwartet. Als ich an ihrer Stelle gewesen war, hatte ich damit auch nicht gerechnet. Ich erinnere mich noch, wie geschockt ich gewesen war. Das Bild leuchtete an der Wand. Es zeigte einen etwa dreißigjährigen weißen Mann mit blondem Haar und Seitenscheitel. Er sah aus wie ein Fernsehstar, gut aussehend, kräftig. Auf dem nächsten Bild war ein ungefähr fünfzigjähriger Schwarzer mit weißem Bart und Brille zu
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