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Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London

Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London

Titel: Der Hexer - NR36 - Das Hirn von London
Autoren: Verschiedene
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wohl bewußt, obwohl er sich den Anschein gab, als würde ich für ihn gar nicht existieren. Eine Weile später bekam er sein Menü. Er begann, die Lammkeule mit Pilzen und Rahmsauce zu zerteilen, hatte aber offensichtlich keinen großen Genuß daran. Zweifellos war er irritiert, was ich durchaus verstehen konnte. Auch ich wäre irritiert gewesen, hätte ich fortwährend die Gewißheit gehabt, daß mir jemand Löcher in den Hinterkopf starrte.
    Schließlich reichte es ihm. Er ließ Messer und Gabel fallen und wandte sich mit einer ungestümen Drehung zu mir um.
    »Was bezwecken Sie damit, Mister?« fuhr er mich an.
    Ich schluckte, um mich des Kloßes zu entledigen, der mit einem Male in meiner Kehle saß.
    »Ich weiß nicht, was Sie meinen«, gab ich zur Antwort.
    »Sie wissen verdammt genau, was ich meine«, knurrte er. »Sie glotzen mich an, als hätte ich Ihnen die Brieftasche gestohlen!«
    »Davon... kann keine Rede sein«, preßte ich hervor.
    »Natürlich nicht. Also, warum glotzen Sie mich an?«
    »Ich...«
    Zum Glück wurde ich einer Antwort enthoben, denn in diesem Augenblick brachte der Kellner mein eigenes Essen. Ich murmelte irgend etwas und zwang mich dann, meine Aufmerksamkeit auf das Menü zu richten. Es handelte sich um flambierte Nieren in irgendeiner undefinierbaren, bunten Soße. Der Teufel mußte mich geritten haben, so etwas zu bestellen. Dennoch machte ich mich sogleich darüber her, teils, um mich selbst abzulenken, teils, um den wütenden Blicken meines Tischnachbarn zu entkommen.
    Auch der Fremde nahm schließlich Messer und Gabel wieder hoch und aß weiter. Was meine Nieren anging, vermochte ich nicht einmal zu sagen, ob sie schmeckten oder nicht. Zu sehr war ich damit beschäftigt, gegen den verrückten inneren Drang anzugehen, der mich zwingen wollte, wieder zu dem Mann am Nebentisch... hinüberzuglotzen, wie er sich ausgedrückt hatte.
    Obgleich ich mich normalerweise durchaus rühmen kann, einen starken Charakter und einen festen Willen zu haben, bereitete ich mir in dieser Hinsicht diesmal eine bittere Enttäuschung. Lange hielt ich meine Enthaltsamkeit nicht durch. Ich kam gegen den unheimlichen Zwang, der sich in mir festgesetzt hatte, nicht mehr an, hörte auf zu essen und nahm meinen Tischnachbarn wieder fest ins optische Visier. Daß ich dabei nicht aufstand und ihm ganz dicht auf die Pelle rückte, mußte ich mir bereits als Erfolg anrechnen.
    Erwartungsgemäß merkte mein Opfer sehr schnell, daß ich wieder angefangen hatte, ihn zu fixieren wie die Schlange das Kaninchen. Ruckartig fuhr er abermals herum.
    »Sagen Sie mal, Mister«, schnauzte er. »Sind Sie vielleicht... andersrum?«
    »Ob ich...«
    »... auf Männer stehe!« sagte er drastisch. »Ja, genau das war meine Frage«
    »Ich... bin verlobt«, stammelte ich. »Mit einem überaus reizenden Mädchen«, fügte ich dann noch hinzu, ganz so, als müßte ich jedes Mißverständnis ausschließen.
    »Na, die Schnepfe möchte ich sehen«, knurrte er und wandte sich wieder ab.
    Zorn wallte in mir hoch. Hatte ich es nötig, Priscylla auf diese Weise beleidigen zu lassen? Der Fremde war zwar kräftig und überragte mich noch um gut eine Handbreit, aber ich zweifelte nicht im mindesten daran, daß ich es jederzeit mit ihm aufnehmen konnte. Nur die Erkenntnis, daß seine rüde Verhaltensweise wohl von mir provoziert worden war, ließ mich davon Abstand nehmen, handgreiflich zu werden.
    In jedem Fall war dem Fremden der Appetit jetzt endgültig vergangen. Er stieß wütend seinen Teller zurück und rief lautstark nach dem Kellner. Er zahlte, ließ sich seinen Mantel bringen, bedachte mich noch mit einem wutsprühenden Blick und verließ dann das Gasthaus.
    Ich stand vor einer schweren Bewährungsprobe. Alles in mir drängte mich, unverzüglich aufzuspringen und dem Mann zu folgen. Krampfhaft klammerte ich mich an der Tischplatte wie an einem Rettungsanker fest. Ich spürte, wie mir der Schweiß aus allen Poren brach, wie in meinem Kopf ein schwindelerregendes Gefühl der Leere entstand, wie das Blut in meinen Adern raste und pochte. Entzugserscheinungen wie bei einem Opiumsüchtigen, schoß es mir durch den Kopf.
    Diesmal jedoch hielt ich durch. Und langsam, wohl mit jedem Schritt, den sich der Fremde vom Restaurant entfernte, besserte sich mein Befinden wieder. Zumindest die rein körperlichen Symptome verflüchtigten sich. Was blieb, war die seelische Empfindung, einen ungeheuren Verlust erlitten zu haben, einen Verlust, den ich
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