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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Autoren: Christopher Hitchens
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man, ebenfalls theoretisch, in die Vergangenheit und Zukunft blicken kann (wozu man aber leider, wenn man sich über diesen Rand stürzen würde, definitionsgemäß nicht genug »Zeit« hätte), den wird Mose und sein unscheinbarer »brennender Dornbusch« ziemlich kalt lassen. Wer die Schönheit und Symmetrie der DNS-Doppelhelix betrachtet und womöglich noch die eigene Genomsequenz bis ins Kleinste analysieren lässt, wird nicht nur beeindruckt sein, welch nahezu perfekte Erscheinung seiner Existenz zugrunde liegt, sondern (hoffentlich) auch beruhigt erkennen, dass er so viel mit anderen Stämmen der menschlichen Spezies gemein hat – der Begriff »Rasse« ist, ebenso wie der Begriff der »Schöpfung«, hinfällig geworden –, und fasziniert feststellen, wie sehr auch er ein Teil des Tierreiches ist. Da kann man wahrlich demütig werden im Angesicht seines Schöpfers, der allerdings, wie sich herausstellt, kein »Wer« ist, sondern eine Kette von Mutationen, die erheblich zufälliger ablaufen, als unsere Eitelkeit es sich wünschen würde. Das ist mehr Rätselhaftes und Erstaunliches, als Säugetiere wie wir verarbeiten können. Selbst der gebildetste Mensch der Welt wird heute zugeben – ich sage nicht beichten –, dass er oder sie immer weniger, aber zumindest immer weniger über immer mehr weiß.
    Was den Trost angeht, so betonen religiöse Menschen zwar gern, dass der Glaube dieses Bedürfnis stillt, doch dazu kann ich nur sagen: Wer falschen Trost anbietet, ist ein falscher Freund. Die Religionskritiker bestreiten ja gar nicht, dass Religion eine Schmerz stillende Wirkung hat, warnen aber vor dem Placebo und dem Fläschchen mit dem eingefärbten Wasser. Das wohl beliebteste falsche Zitat der Moderne – und mit Sicherheit das beliebteste in diesem Zusammenhang – ist die Behauptung, dass Marx die Religion als »Opium fürs Volk« abtat. Das Gegenteil war der Fall: Der aus einer Rabbinerfamilie stammende Marx nahm die Religion sehr ernst und schrieb in seinem Buch. Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie Folgendes:
    Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist. Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. [FUSSNOTE2]

    Der berühmte Ausspruch ist somit eigentlich gar nicht falsch zitiert, sondern wird vielmehr für den primitiven Versuch herangezogen, den philosophischen Einwand gegen die Religion zu verdrehen. Wer geglaubt hat, was Priester, Rabbis und Imame über das Denken und die Denkart der Ungläubigen sagen, wird im Folgenden noch weitere Überraschungen erleben. Vielleicht misstraut er den Worten fortan – oder nimmt sie nicht mehr »in gutem Glauben« hin, was ja des Übels Wurzel ist.
    Marx und Freud, das sei zugegeben, waren keine Ärzte oder Naturwissenschaftler. Besser sehen wir in ihnen die großartigen und fehlbaren fantasievollen Essayisten. Anders ausgedrückt: Wenn sich das intellektuelle Universum ändert, so will ich mich nicht überheblich von der Selbstkritik ausnehmen. Ich gebe mich auch durchaus damit zufrieden, dass manche Widersprüche widersprüchlich bleiben, manche Probleme von der auf Säugetiere zugeschnittenen Großhirnrinde des Menschen nie gelöst werden und sich uns manches nie erschließen wird. Wenn der Nachweis erbracht würde, dass das Universum endlich ist, oder auch, dass es unendlich ist, so wäre beides für mich gleichermaßen unfassbar und unergründlich. Und ich habe zwar viele Menschen getroffen, die erheblich weiser und klüger sind als ich, doch ich kenne niemanden, der so weise und intelligent wäre, dass er etwas anderes behauptete.
    Die mildeste Kritik an der Religion ist mithin die radikalste und vernichtendste. Religion ist von Menschen gemacht. Nicht einmal die Menschen, die sie geschaffen haben, sind sich einig,
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