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Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet

Titel: Der Herr ist kein Hirte - Wie Religion die Welt vergiftet
Autoren: Christopher Hitchens
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weniger epileptisch und apokalyptisch auftraten und später rationaler und moralisch fundierter begründet wurden. Und genau das zeichnet mich und Gleichgesinnte aus. Unser Glaube ist kein Glaube. Auch unsere Prinzipien sind kein Glaube. Wir verlassen uns nicht ausschließlich auf Naturwissenschaften und Vernunft, denn die sind zwar notwendig, aber nicht erschöpfend. Allerdings misstrauen wir allem, was Wissenschaft und Vernunft widerspricht. Hier und da sind wir uneinig, doch wir achten die freie Forschung, die geistige Offenheit und die Beschäftigung mit Ideen um ihrer selbst willen. Wir halten nicht dogmatisch an Überzeugungen fest Die Meinungsverschiedenheit zwischen den Professoren Stephen Jay Gould und Richard Dawkins zum »Punktualismus« und zu den offenen Fragen in der postdarwinschen Theorie ist weitreichend und tief gehend, doch wir werden sie mittels Nachweisen und des Austauschs von Argumenten lösen und nicht durch gegenseitige Exkommunizierung. Auch meine Verärgerung über den Vorschlag der Professoren Dawkins und Dennett, Atheisten sollten sich selbstherrlich den Namen »brights«, »schlaue Köpfe«, geben, ist übrigens Bestandteil einer anhaltenden Auseinandersetzung. Wir sind auch nicht immun gegen die Lockungen des Wunderbaren, Rätselhaften und Ehrfurcht Gebietenden, doch dafür haben wir Musik, Kunst und Literatur: Shakespeare, Tolstoi, Schiller, Dostojewski und George Eliot verarbeiten komplexe ethische Konflikte besser als die mythischen Moralgeschichten der heiligen Schriften. Literatur, nicht die Heilige Schrift, nährt den Geist und – eine andere Metapher haben wir nicht – die Seele. Wir glauben zwar nicht an Himmel oder Hölle, doch wird kein Statistiker nachweisen können, dass wir in Ermangelung des Anreizes und der Abschreckung mehr Eigentums- oder Gewaltverbrechen begehen als gläubige Menschen – eine gründliche statistische Untersuchung würde, so vermute ich, sogar ergeben, dass das Gegenteil der Fall ist. Wir haben uns damit abgefunden, dass wir kein zweites Mal leben, es sei denn durch unsere Kinder, für die wir mit ganzem Herzen den Weg frei machen und unseren Platz räumen. Wenn die Menschen erst akzeptiert haben, dass ihr Leben kurz und mühsam ist, werden sie einander womöglich besser behandeln, nicht schlechter. Unserer Überzeugung nach kann man ohne Religion ein moralisch einwandfreies Leben führen. Und wie wir wissen, haben sich umgekehrt zahllose Menschen von der Religion dazu verleiten lassen, sich nicht nur keinen Deut besser zu betragen als andere, sondern Verhaltensweisen an den Tag zu legen, die selbst einem Zuhälter oder einem Völkermörder noch ein Stirnrunzeln entlocken würden.
    Vor allem aber bedürfen wir Ungläubigen keiner Bekräftigungsmaschinerie. Blaise Pascal dachte an Leute wie uns, als er einem Briefpartner die Worte in den Mund legte: »Ich bin so geschaffen, dass ich nicht glauben kann.« Zur Zeit der großen mittelalterlichen Ketzerverfolgungen wollten in dem Dorf Montaillou die Inquisitoren von einer Frau wissen, wo sie ihre ketzerischen Zweifel an der Hölle und der Wiederauferstehung herhabe. Obwohl sie gewusst haben muss, dass ihr von der Hand dieser frommen Männer ein langsamer Tod drohte, antwortete sie, sie habe ihre Zweifel von niemandem, sondern habe sie alle selbst entwickelt. (Häufig hört man Geistliche die intellektuelle Schlichtheit ihrer Herde loben; in diesem Fall trifft das sicher nicht zu angesichts der geradlinigen Vernunft und Klarheit, die indes mehr Menschen, als wir aufzählen könnten, mit Prügeln und Flammen ausgetrieben wurden.)
    Wir müssen uns nicht täglich, einmal in der Woche oder an besonderen Feiertagen versammeln, um uns unserer Rechtschaffenheit zu versichern oder uns in unserer Unwürdigkeit zu ergehen. Wir Atheisten brauchen keine Priester und auch keine geistliche Hierarchie, die über die Einhaltung ihrer Lehre wachen. Opfer und Zeremonien sind uns ebenso zuwider wie Reliquien und die Verehrung jeglicher Bilder und Objekte – und das schließt auch eine der nützlichsten aller menschlichen Erfindungen ein, das Buch. Für uns kann kein Flecken auf Erden »heiliger« sein als ein anderer: Die pompöse Absurdität einer Pilgerreise und die horrende Tötung von Menschen im Namen einer heiligen Mauer, einer Höhle, eines Schreins oder eines Steins ersetzen wir durch den lässigen, vielleicht auch eiligen Gang vom einen Ende der Bibliothek zum anderen oder zum Mittagessen in netter Gesellschaft auf
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