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Der heilige Schein

Der heilige Schein

Titel: Der heilige Schein
Autoren: David Berger
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sich an die Aufklärung der Fälle in seinem Orden wagte, sind keineswegs typisch für den Umgang der Kirche mit diesem Problem. Im Gegenteil, traditionell ist das Hauptanliegen der zuständigen kirchlichen Stellen in solchen Fällen eher Vertuschung und Geheimniskrämerei.
    Die Glaubenskongregation, der der heutige Papst seit 1981 Vorstand, ist hier mit schlechtem Beispiel vorangegangen. In diesem Zusammenhang sei nur auf den im März 2010 bekannt gewordenen Fall des amerikanischen Priesters Lawrence C. Murphy hingewiesen, der über Jahrzehnte an die zweihundert gehörlose Jungen sexuell missbrauchte. Obgleich der zuständige Ortsbischof den Fall wie vorgeschrieben der Glaubenskongregation meldete und um Konsequenzen bat, blieb eine Antwort lange Zeit aus, bis der unter Ratzinger arbeitende Kardinal Bertone den Fall, ohne dass irgendetwas im Sinne einer Entschädigung der Opfer passiert wäre, kurz vor der Jahrtausendwende kurzerhand für abgeschlossen erklärte. [2] Dieses Beispiel zeigt sehr anschaulich, dass die katholische Kirche dazu neigt, unangenehme Dinge möglichst unter den Teppich zu kehren.
    Das Motiv dafür ist allerdings in den seltensten Fällen Scham über das Vorgefallene oder falsche Barmherzigkeit gegenüber den Tätern, wie manch einer glauben mag. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die Aufrechterhaltung von Macht und, damit eng verbunden, die Wahrung des heiligen Scheins, der frommen Fassade der Kirche. Im Licht dieses heiligen Scheins bringen Kirchenfürsten katholische Positionen und sich selbst als das moralische Gewissen der Menschheit ins politische Gespräch ein. Den Hintergrund dafür liefert das Dogma von der Heiligkeit der Kirche, das jeder Katholik im Glaubensbekenntnis betend immer wieder zu bekennen verpflichtet ist. Jenen, die es wagten, an diesem Dogma von der unvergänglichen Heiligkeit der katholischen Kirche zu zweifeln, unterstellte der heutige Papst in seiner Einführung in das Christentum schon 1968 »versteckten Stolz« und »gallige Bitterkeit«. [3]
    Die alten Verhaltensmuster wirken bis zur Stunde fort: Nachdem das Leid der Opfer und die zahllosen Verbrechen nicht mehr zu leugnen sind, verlegt man sich auf Schuldzuweisungen an Sündenböcke, die der Kirche ohnehin schon lange suspekt sind. In diesem Zusammenhang greift man auch auf sehr unheilige Mittel zurück, um den schönen Schein einer katholischen Märchenwelt wider alle Vernunft irgendwie am Leben zu erhalten.
    So stellte der zweithöchste Mann der Kirche neben dem Papst, Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, im April 2010 bei einer Pressekonferenz in Chile einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Homosexualität und den Missbrauchsfällen in der katholischen Kirche her. Demnach sind nicht die eigentlichen Täter, nicht die Priester, nicht die rigide Sexualmoral der katholischen Kirche mit ihrem krampfhaften Festhalten am Zölibat schuld an den zahlreichen Missbrauchsfällen, nein, schuld sind angeblich die Homosexuellen. Bertone behauptete, es sei wissenschaftlich erwiesen, dass Zölibat und Pädophilie nichts miteinander zu tun hätten. Sehr wohl aber hätten Wissenschaftler einen Zusammenhang zwischen Homosexualität und Pädophilie festgestellt, was ihm kürzlich erst bestätigt worden sei. Die Information, um welche Wissenschaftler es sich dabei handelt und auf welchen Studien ihre Theorien basieren, blieb der hohe Kirchenfürst seinen lateinamerikanischen Zuhörern jedoch schuldig. [4]
    Nach Bertones chilenischem Gastspiel dauerte es nicht lange, bis der in seiner brasilianischen Heimat sehr populäre Erzbischof Dadeus Grings für die Missbrauchsfälle junge Schwule verantwortlich machte, die die ansonsten integren Priester schlichtweg verführt hätten, und forderte daher, Homosexualität generell wieder unter Strafe zu stellen. Und Simone Scatizzi, der Bischof der italienischen Diözese Pistoia in der Toskana, erklärte seinen Landsleuten angesichts des Missbrauchsskandals, wo die Wurzel aller schwerwiegenden Probleme unserer Tage liege: Die schändliche Legalisierung der himmelschreienden Todsünde der Homosexualität sei der ursächliche Vorläufer für »die Zulassung von Pädophilie, Mafia-Organisationen, Terrorismus und Präventivkrieg«. [5] Um der Diskriminierung von Homosexuellen noch die von Frauen hinzuzufügen, mutmaßte er weiter, Homosexualität sei verantwortlich für die fortschreitende katastrophale »Verweiblichung der Gesellschaft«. Über sexuellen Missbrauch dürfe man sich da wahrlich
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