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Der Heiler

Der Heiler

Titel: Der Heiler
Autoren: Antti Tuomainen
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berührt worden. Ich stieg aus und bewegte die Sitze, um darunter nachzusehen, fand aber nicht mal Staub.
    Als Nächstes ging ich nach hinten und öffnete die Heckklappe. Der Kofferraum war klein und vollgestopft. In der Mitte stand eine große Sporttasche. Ich zog den langen, stählernen Reißverschluss auf: Männerkleidung, vermutlich Väntinens. Als ich eine Weile darin herumwühlte, entdeckte ich, dass auch Sommerkleidung dar­unter war. Heute war Heiligabend. Väntinen hatte es wörtlich gemeint, als er davon sprach, in den Norden zu verschwinden. Und da er schon seine Tasche gepackt hatte, sollte es offenbar bald passieren.
    Ich untersuchte noch zwei weitere Taschen und einen kleinen Rucksack und fand auch darin gewöhnlichen Reisebedarf: Kleidungsstücke, Wasch- und Rasierzeug und schließlich Väntinens Pass. Ich nahm die Taschen sogar heraus und sah unter die Matte. Nur der Ersatzreifen und der Wagenheber.
    Ich beendete meine Durchsuchung und schloss den Wagen ab. Ich ging wieder zu Hamid. Sein Gesicht war geradeaus gerichtet und sah hinter der nassen Windschutzscheibe wie das einer schlecht gegossenen Wachs­puppe aus. Da kam mir plötzlich eine Idee: Ich konnte Väntinens Reiseziel herausfinden, indem ich zu ihm zurückkehrte.
    Sein Leichnam lag noch genauso auf dem Sandweg, wie er gefallen war, die Waffe auf dem Boden. Der Regen hatte den Schädelknochen noch weißer gespült und Väntinens Kleidung so durchnässt, dass sie mit dem Boden ringsum zu ein und derselben Schlammmasse verschmolz.
    Es war mir unangenehm, seine Taschen zu durch­suchen. Bereits zum zweiten Mal an diesem Abend steckte ich meine Hände in den Mantel eines toten Mannes. Ich fand Väntinens Handy, das ich auf dem Weg zum Taxi an meinem Hemd trockenrieb.
    Hamid hatte inzwischen Musik angemacht, es war wieder der Mann, der tausend Worte in der Minute in einer unbekannten Sprache zu einem Hip-Hop-Rhythmus ausstieß. Vielleicht kehrte Hamid so zur Normalität zurück. Allerdings konnte ich ihm vom Rücksitz nicht in die Augen blicken, so dass es sich auch um etwas anderes handeln konnte. Und ich fragte ihn immer noch nicht, wo er gelernt hatte, so zu schießen und Menschen zu töten. Vielleicht würde er es mir irgendwann von selbst erzählen. Oder ich würde irgendwann nicht mehr so erschöpft sein und könnte selbst die richtigen Schlüsse ziehen.
    Ich löste die Tastensperre von Väntinens Handy und konnte direkt ohne Code seine SMS und Mails lesen. Lange dauerte es nicht, bis ich fand, wonach ich gesucht hatte.
    Die Bahnfahrkarte galt für eine Person, aber aus dem E-Mail-Anhang ging hervor, dass noch zwei weitere Personen mitreisen würden und dass heute Nacht Start war.
    Bis zur Abfahrt blieben noch sechsundvierzig Minuten.
    2 Auf dem Bahnhofsplatz herrschte Gewühl. Die Straßenlampen tauchten alles in ein grelles, erbarmungsloses Licht, so als sollten die Leute vor Reiseantritt durchleuchtet werden. Überall hörte man Geschrei, Streit, Betteln, Flehen und Drohungen. Es fuhr jede Stunde ein Zug in den Norden, und nicht einmal das reichte aus, den Andrang zu bewältigen. Immer mehr Menschen kamen aus Ost-, Süd- und Westeuropa. Draußen auf dem Platz wurden Fahrkarten und Wertgegenstände zu Schwarzmarktpreisen verkauft. Hunderte Diebe und Trickbe­trüger waren unterwegs, dazu all die Reisenden, einer verzweifelter als der andere. Jede zweite Person schien Polizist, Soldat oder Wachmann zu sein.
    Die Drohungen und Forderungen der Erwachsenen und das Weinen der kleinen Kinder zeugten von der Qual und Pein der Menschen. Ich lief so schnell wie möglich mit langen Schritten bis zum Bahnhofsgebäude und drosselte mein Tempo erst, als ich in Sichtweite der Soldaten kam, die mit Sturmgewehren bewaffnet die Türen bewachten. Als Nächstes stellte ich mich bei der Sicherheitskontrolle an, versuchte, nicht an die rennende Zeit zu denken, und sah mich gleichzeitig nach allen Seiten um.
    Ich wusste sehr wohl, dass die beiden auf dem Ticket erwähnten Personen nicht unbedingt Johanna und Tarkiainen sein mussten. In dem mich umgebenden Gemisch aus Nationalitäten und Rassen konnte ich keine bekannten Gesichter entdecken. Überall begegneten mir nur Angst und Ratlosigkeit in den Blicken. Jedem war klar, dass nur ein Bruchteil der Reisenden im Norden erträgliche Bedingungen, Wohnraum oder überhaupt etwas zu essen
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