Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Heiler

Der Heiler

Titel: Der Heiler
Autoren: Antti Tuomainen
Vom Netzwerk:
finden würde.
    Kommissar Jaatinen erwartete mich an der vereinbarten Stelle. Sein Gesichtsausdruck war nicht mehr ganz so abwesend und miesepetrig wie vor einigen Stunden. Aber er hatte auch noch nicht wieder das Selbstbewusstsein wie bei unserer ersten Begegnung. Jetzt war er ein Mann, der ganz eindeutig irgendwelche Probleme hatte und der wusste, dass auch die anderen es bemerkten.
    Â»Gleis einundzwanzig«, sagte er, ehe ich ihn überhaupt begrüßen konnte.
    Ich wollte direkt zu den Bahnsteigen gehen, aber da packte er mich am Arm. Sein Griff unterhalb der Schulter war fest und stoppte mich.
    Â»Tapani«, sagte er mit leiser Stimme. »Falls wir Tarkiainen finden …«
    Â»Wir finden ihn, wenn wir jetzt gehen«, sagte ich und riss mich los.
    Jaatinen machte ein paar schnelle Schritte, stellte sich vor mich hin und bohrte seinen Blick in meinen. »Falls wir Tarkiainen finden, kann ich ihn nicht verhaften.«
    Â»Warum nicht?«, fragte ich.
    Â»Es gibt Probleme mit den DNA -Ergebnissen. Oder das Problem besteht vielmehr darin, dass die Ergebnisse verschwunden sind.«
    Ich sagte kein Wort, ging um ihn herum und weiter zur Tür. Er kam hinterher und redete auf mich ein, ich verstand nur einzelne Worte: Computer, abgestürzt, Fehlen von Sicherheitskopien, Katastrophe. Gleis einundzwanzig befand sich weit weg auf der linken Seite. Bis zur Abfahrt blieben noch neun Minuten.
    Ich kämpfte mich halb im Laufschritt durch die Menschenmenge und all die schweren Koffer und Rucksäcke. Die überdachte Halle war so voller Lärm, dass ich weder meine noch Jaatinens Schritte auf dem Asphalt hörte. Ich roch die Suppenküchen in der Ferne und die Verzweiflung der Leute. Es war Heiligabend, und niemanden interessierte das.
    Ich passierte ganze Länder und Erdteile, durchquerte Sprachgebiete und Regionen mit ihren Dialekten. Helsinki war endlich international. Aber ganz so hatten wir uns das wohl seinerzeit nicht erträumt.
    Gleis einundzwanzig war völlig verstopft von Menschen und Gepäckstücken. Der Zug war endlos lang, Väntinens Platz befand sich im Wagen achtzehn. Ich lief an der äußersten Kante des Bahnsteigs entlang, um zu vermeiden, dass ich Leute anrempelte. Jaatinen folgte mir. Wir sahen vermutlich wie zwei äußerst ungeschickte Trapezkünstler aus, wie wir da versuchten, so schnell wie möglich auf dem schmalen Randstreifen vorwärtszukommen.
    Ich zählte die Wagen durch. Die Menschenmassen verdeckten die Schilder und Beschriftungen, und das Zählen war ebenso schwierig wie das Balancieren auf dem Trapez. Als ich bei meinen Berechnungen die Sechzehn erreichte, drängte ich mich durch die Menschenmauer zum Waggon. Ein großer, schwarzbärtiger, stinkender Mann schob mich beiseite, als sich versuchte, die Nummer zu lesen. Ich wich ihm aus und wartete ein paar Sekunden, bis der Riese mit seinem penetranten Geruch weg war.
    Schließlich sah ich die Nummer, es war der Wagen fünfzehn.
    Ich ging weiter, mit der linken Schulter fast den Zug streifend, und hörte die letzten Lautsprecherdurchsagen, auf Finnisch, Englisch, Russisch und in irgendeiner vierten Sprache. Auf dem Innenrand des Bahnsteigs kam ich kaum voran, ich musste die Leute vor mir wegdrängen. Zur Antwort wurde ich angeschrien und geschubst. Eine ältere Frau mit Kopftuch und pechschwarzen Augen stach mir mit der Metallspitze ihres langen Regenschirms schmerzhaft in den Oberschenkel.
    Wagen achtzehn befand sich jetzt vor mir, ich versuchte ihn in seiner ganzen Länge zu überblicken. Jaatinen stellte sich hinter mich. Plötzlich brüllte er etwas, dann stürmte er vor, für einen großen, muskulösen Mann bewegte er sich sehr schnell.
    Ich sah Tarkiainens Gesicht zuerst von der Seite. Vielleicht nahm er den heranstürmenden Jaatinen instinktiv wahr und drehte sich um, seine Miene veränderte sich dabei keinen Deut. Im Bruchteil einer Sekunde entschied er sich und rannte davon. Ich lief hinter den beiden her.
    Jaatinen befand sich zehn Meter hinter Tarkiainen, als er über einen Koffer stolperte, der auf dem Bahnsteig stand. Er schrie auf, sein linkes Knie bog sich merkwürdig nach innen, im selben Moment fiel er vornüber zu Boden und konnte sich gerade noch mit der linken Hand abstützen. Ich hörte, wie das Gelenk brach.
    Ich lief zu Jaatinen, er rollte sich über sein beschädigtes Knie hinweg auf den Rücken, auf seinem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher