Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
Vom Netzwerk:
Schäferhund bellt. Der Hof ist voller Schutt. Drei Mulden mit Bauholz, Verputzbrocken und Bruchsteinen. Thomas treibt den Polier auf, der trägt eine glänzende Lederjacke. Ja, Sie können hinein, Sie haben Glück, es ist gerade renoviert worden, alles neu, schön gemacht, super gelungen, pünktlich, ein Qualitätsjob. Wir haben gerade Labors im Keller eingebaut, Brandschutztüren und eine Sprinkleranlage. Jetzt kommen die Büros dran. Die Reste vom alten Haus mussten wir loswerden, total hinüber, hoffnungslos. Vor einem Monat hätten sie es sehen sollen!
    Ich hätte es sehen sollen. Ich bin zu spät. Was kann ich in dieser ausgeweideten Hülle noch berühren? Es gibt keine Decke, bloß Stahlträger und Elektrokabel. Keine Böden, nur Betonestriche. Die Wände sind frisch verputzt, die Fenster neu verglast. Ein paar Eisenstreben stehen da für neue Raumunterteilungen. Sie haben alle Türen herausgerissen, außer einer Eichentür, die morgen auf den Müll soll. Geblieben ist nur das schiere Volumen der Räume, fünf Meter hoch. Hier ist nichts.
    Thomas und der Glänzende eilen voraus, unterhalten sich auf Russisch. »In dem Haus war seit der Revolution die Zentrale der Dampfschifffahrtsgesellschaft. Und vorher? Weiß Gott! Und jetzt? Die Zentrale der Marine-Gesundheitsbehörde. Deshalb haben wir die Labors eingebaut.« Sie sind schnell. Ich muss mich beeilen.
    Wir sind beinahe schon aus der Tür und in dem staubigen Hof, als ich umkehre. Ich habe mich geirrt. Ich gehe wieder die Treppe hinauf und lege meine Hand auf das schmiedeeiserne Geländer, jede Säule ist von einer geschwärzten Weizenähre gekrönt, die Ähre der Efrussi, der Weizen aus der Kornkammer mit der schwarzen ukrainischen Erde, der sie reich gemacht hat. Und während mein Bruder etwas zu mir herauf ruft, stelle ich mich an ein Fenster und blicke durch die Doppelreihe der Kastanien hinaus über die Promenade, die staubigen Wege und die Bänke auf das Schwarze Meer.
    Die Efrussi-Knaben sind immer noch hier.
    Einige Spuren sind flüchtig. Die Efrussi leben in den Erzählungen von Isaak Babel, dem jüdischen Chronisten des Vorstadtlebens, der Banden in den Slums. Ein Efrussi verschafft sich durch Bestechung den Eintritt ins Gymnasium, zum Nachteil eines begabteren, ärmeren Studenten. Sie kommen in den jiddischen Geschichten von Scholem Alejchem vor. Ein armer Mann aus dem Schtetl wandert nach Odessa, um vom Bankier Efrussi Hilfe zu erbitten. Doch der schlägt seine Bitte ab. Es gibt eine jiddische Redensart: »leben vi Got in Odes«, leben wie Gott in Odessa, und die Efrussi leben in ihrer Zionstraße wie Gott. Und irgendwo an der Straße liegt zwischen den Trompetenbäumen der Ort, wo der enterbte Stefan, aus Wien verbannt und von Monat zu Monat in schlimmeren Geldnöten, mit seiner frisch angetrauten Frau wohnte, der Geliebten seines Vaters.
    Wieder andere Spuren sind konkreter. Nach einem Pogrom wurde ein Efrussi-Waisenhaus gegründet. Es gibt die Efrussi-Schule für jüdische Kinder, gestiftet von Ignaz in Gedenken an seinen Vater, den Patriarchen, und dreißig Jahre lang von Charles, Jules und Viktor mit zusätzlichen Zuwendungen bedacht. Sie steht noch am Rand eines staubigen Parks mit verwilderten Hunden und zertrümmerten Bänken, zwei niedrige, zusammenhängende Gebäude neben der Straßenbahn. 1892 erwähnt die Schule eine Spende von 1200 Rubel durch die Brüder Efrussi. Die Schulleitung hat in St. Petersburg ein Astrolabium, eine Mensula, also einen Messtisch, einen Globus, ein Stahlmesser zum Glasschneiden, ein Skelett und ein auseinandernehmbares Augenmodell gekauft. In einer Buchhandlung in Odessa haben sie 533 Rubel und 64 Kopeken ausgegeben und 280 Bücher von Beecher Stowe, Swift, Tolstoi, Cowper, Thackeray und Scott gekauft. Mit dem Rest schafften sie Mäntel, Blusen und Hosen für fünfundzwanzig arme jüdische Knaben an, damit diese »Ivanhoe« oder »Der Jahrmarkt der Eitelkeiten« lesen konnten, ohne vor Kälte zu zittern, gewappnet gegen den Staub Odessas.
    Der Staub in Paris in der Rue Monceau, der Staub in Wien beim Bau der Ringstraße: Nichts kann es mit diesem Staub aufnehmen. »Der Staub liegt wie ein alles zudeckendes Leichentuch, fünf, sechs Zentimeter dick«, schreibt Shirley Brooks 1854 in »The Russians of the South«. »Der leichteste Windhauch wirft ihn in Wolken über die Stadt, der sachteste Fußtritt lässt ihn in dichten Flocken hochwirbeln. Wenn ich Ihnen sage, dass unentwegt Hunderte Kutschen in höchstem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher