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Der Hase mit den Bernsteinaugen

Der Hase mit den Bernsteinaugen

Titel: Der Hase mit den Bernsteinaugen
Autoren: Edmund de Waal
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auf Iggies Liste: Sie sind von Tomokazu, aus Buchsbaum, die Farbe eines Caffe macchiato. Das Netsuke ist sehr klein und so geschnitzt, dass man, dreht man es in der Hand, die blanken Schildkröten krabbeln fühlt, unentwegt und immer wieder. Während ich es halte, weiß ich: Dieser Mann hat sich Schildkröten wirklich angeschaut.
    Iggie hatte sich Notizen über die Fragen der Wissenschaftler und einiger Händler gemacht, die sich die Sammlung angesehen hatten.
     
    Warum bloß sollte die Signatur auf einem Kunstwerk die Sache vereinfachen? Nein, mit der Signatur stellen sich erst Fragen von byzantinischer Kompliziertheit. Sind die Striche sicher ausgeführt oder zögernd? Wie viele Striche hat das Schriftzeichen? Weist es eine Umrandung auf? Wenn ja, wie sieht diese Kartusche aus? Könnte man die Zeichen eventuell anders deuten? Und meine Lieblingsfrage, eine Frage von beinahe scholastischer Tiefgründigkeit: Wie sieht die Beziehung zwischen einem großen Schnitzkünstler und einer schlechten Signatur aus?
    Das wird mir zu viel, also sehe ich mir die Patina an. Und dann schlage ich nach:
    »Menschen aus dem Westen mag es scheinen, als wäre ein Unterschied in der Politur nur eine Sache der Rezeptur und des Auftrags. Tatsächlich aber ist das Polieren ein wichtiger Prozess bei der Schaffung eines schönen Netsuke. Dazu gehört eine Abfolge von Erhitzen, Trocknen und Einreiben mit diversen Ingredienzien und Materialien, die sorgsam gehütete Geheimnisse sind. Eine schöne Politur erfordert drei bis vier Tage mühsamer Ausdauer und gewissenhafter Sorgfalt. Die dicke, satte, braune Politur Tomokazus des Jüngeren ist zwar schön, aber nicht von überragender Qualität.«
    Also nehme ich meinen Tiger mit den eingelegten Augen aus gelbem Horn, geschaffen von Tomokazu dem Jüngeren aus der Tamba-Schule. Dieser Schnitzer arbeitete mit feinem, festem Buchsbaumholz und war für die Beweglichkeit seiner Tierfiguren bekannt. Meine hat einen gestreiften Schwanz, peitschengleich über den Rücken geschwungen. Ich nehme sie für einen Tag oder zwei heraus und lasse sie dummerweise auf meinen Notizen im fünften Stock (Biographien K-S) in der London Library liegen, während ich auf einen Kaffee gehe. Aber er ist noch da, als ich zurückkomme, mein unvergleichlicher Tiger mit den glühenden Augen in seinem satten, braunen, grimmigen Gesicht.
    Er ist pure Drohung. Er hat die anderen Leser verscheucht.

CODA
     
    Tokio, Odessa, London 2001-2009
     
    Jiro
     
    Ich bin wieder in Tokio und gehe von der U-Bahn-Station nach oben, vorbei an den Automaten mit den Iso-Getränken. Es ist September, ich war seit zwei Jahren nicht mehr hier. Die Automaten sind neu. Manche Dinge in Tokio verändern sich langsam. Neben den silbrig schimmernden Wohnblocks stehen immer noch die paar verfallenen Holzhäuser mit den Wäscheleinen vor der Tür. Mrs. X vom Sushi-Restaurant putzt die Treppe.
    Ich wohne bei Jiro, wie immer. Er ist Anfang achtzig, hat viel zu tun. Er geht natürlich in die Oper und ins Theater. Einige Jahre hat er einen Töpferkurs besucht, Teeschalen und kleine Schüsselchen für Sojasauce angefertigt. Jiro hat Iggies Wohnung seit dessen Tod vor fünfzehn Jahren unverändert gelassen. Die Federn stecken noch im Halter, der Löscher liegt noch mitten auf dem Schreibtisch. Hier wohne ich.
    Ich habe einen Kassettenrecorder mitgebracht, wir werkeln eine Zeitlang daran herum und geben es dann auf, sehen uns die Nachrichten an, nehmen einen Drink, essen etwas Toast und Pate. Ich bin drei Tage hier, um Jiro noch ein bisschen über sein Leben mit Iggie auszufragen und zu überprüfen, ob ich mir bei der Geschichte der Netsuke nicht irgendetwas falsch gemerkt habe. Ich möchte sicherstellen, dass ich richtig wiedergebe, wie sich Iggie und Jiro kennenlernten, den Namen der Straße, wo sie ihr erstes gemeinsames Haus hatten. Es ist eines dieser Gespräche, die eben stattfinden müssen, aber das Formelle daran stört mich.
    Der Jetlag macht mir zu schaffen, um halb vier Uhr früh werde ich wach. Ich mache mir Kaffee, streiche mit der Hand über Iggies Bücherschränke, die alten Kinderbücher aus Wien, die gesammelten Werke von Len Deighton neben Proust, suche etwas zu lesen. Ich nehme mir eine alte Ausgabe des Architectural Digest, ich liebe sie wegen der glamourösen Anzeigen für Chrysler und Chivas Regal Whisky und finde zwischen den Heften vom Juni und Juli 1966 einen Briefumschlag mit sehr alten, offiziell aussehenden Dokumenten auf Russisch.
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