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Der Hals der Giraffe

Der Hals der Giraffe

Titel: Der Hals der Giraffe
Autoren: Judith Schalansky
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Finger in die Luft.
    »Ach, Frau Lohmark!« Schwanneke tat erfreut. »Ich dachte, wir könnten den Flur etwas verschönern. Und wo wir das Schuljahr mit dem Impressionismus beginnen …«
    Tatsächlich hing jetzt an der Wand ein sumpfiges Geschmiere im Querformat.
    »Da dachte ich … Monets Seerosen passen so gut zu Ihren Quallen.« Sie klatschte in die Hände. »Ich dachte, Ihre Quallen könnten etwas Gesellschaft brauchen.«
    Es war nicht zu glauben. Dass sie es tatsächlich wagte, ihre krautigen Wasserpflanzen nur drei Handbreit von den prachtvollen Medusen an die Wand zu nageln. Schlimm genug, dass der Kunstraum auf derselben Etage war und die Schüler fortwährend mit ihrer Tuscheplörre über den Flur kleckerten. Bisher hatte sie sich an die Markierung gehalten. Karola Schwannekes Wand war jenseits, Inge Lohmarks Wand diesseits der Klos. Das ging nun wirklich zu weit. Aber wegen ein paar hässlicher Bilder gleich am ersten Schultag einen Krieg anzetteln? Nur die Ruhe bewahren. Das kluge Tier wartet ab.
    »Haeckels Quallen, liebe Kollegin. Es sind immer noch Haeckels Quallen.«





»Es geht um den Eindruck, daher ja auch der Name. Es geht nämlich um die Impression, ganz, ganz unmittelbar.« Die Schwanneke kam jetzt richtig in Fahrt. Die beiden Elfer standen herum, nickten dumm und trauten sich nicht, in die Pause abzuhauen. Alles nur, weil sie Karola zu ihr sagen durften.
    Das plump ausufernde Querformat zeigte ein ungeheures Geflirre. Schimmelige Flecken auf fauligen Farben. Alles wurzelte im Schlamm, auf dem Grund eines Tümpels, eines brackigen Gewässers. Verwesende Süße und Modergeruch. Moderne hin oder her. Die Schönheit der Natur bedurfte keiner Verfremdung. Ihr war nur mit äußerster Präzision nahezukommen.
    Von welch bestechender Klarheit, von welch entschlossener Pracht waren dagegen Haeckels Quallen: Die untere Ansicht einer Taschenqualle mitsamt ihrem fliederfarbenen, gekräuselten Strahlenkranz, das achteckige Mundrohr wie ein Blütenkelch. In der Mitte der purpurne Trichter der Scheibenqualle. Wallendes Tentakelhaar, das einem blau gerüschten Unterrock entsprang. Von winzigen, mit Sternen kristallin verzierten Schwestern umschwärmt. Und ganz rechts die gläserne Herrlichkeit der Blumenqualle, aus deren genopptem Schirm zwei nahezu symmetrische Fangfäden wuchsen. Ausladende Girlanden, mit roten Nesselknöpfen wie von Perlen besetzt. Gerahmt von zwei Querschnitten. Einer mit dem rot-weiß-flammenden Gefieder einer Rembrandt-Tulpe, der andere gleichmäßig wie ein Kaukasierhirn.
    Sie hatte diese prachtvollen Blätter aus der Monographie der Medusen gelöst, einem steifen Band, den sie im Schularchiv gefunden hatte. Archiv war gut. Ein Loch im Keller, wohin sie die zerfledderten Wandzeitungen, verglasten Porträts und dünn gerahmten Bilder verbannt hatten, auf Spanplatte aufgezogene Leinwanddrucke. Der Tierparkpeter mit den roten Pausbacken, das junge Paar am Ostseestrand und die vom Tageslicht ausgebleichten Sonnenblumen. Die Wände waren auf einmal sehr nackt gewesen. Bis Kalkowski ihr die Medusen in silberne Kästen gerahmt hatte. Ihr Anblick eine Wohltat an jedem Tag. Am Anfang war die Qualle. Alles andere kam später. Ihre Vollkommenheit blieb unerreicht, kein Zwei-Seiten-Tier konnte so schön sein. Nichts ging über die Radialsymmetrie.
    Genug jetzt.
    »Quallen leben in salzigen Gewässern, Seerosen in süßen. Einen guten Tag, Frau Schwanneke.« Es war zwecklos, sich mit einer Person zu streiten, der jeglicher Sinn für das wahrhaft Schöne, für wirkliche Größe abging.
    Auf dem Hof waren die Kleinen zur großen Pause versammelt. Die Sek-Zwo genoss neuerdings das Privileg, in ihren Klassenräumen bleiben zu dürfen. Inge Lohmark war dagegen gewesen. Schließlich taten Frischluft und Sonnenlicht dem Organismus in jedem Alter gut. Schon allein wegen der Energieumwandlung. Also standen unter dem verwitterten Wandmosaik mit Kran, Rakete und Weltempfänger nur die Zehntklässler, um einen Mülleimer versammelt. Rührend, wie ungelenk sie ihre Kippen zu verstecken versuchten, so dass ihr die Lust verging, das Nötige zu tun. Sie grüßten sogar ganz artig. Aufsicht hatte ohnehin die kettenrauchende Bernburg, die aber nirgends zu entdecken war. Wahrscheinlich hatte sie sich gleich wieder zum Jahresanfang krankschreiben lassen. Vorsorglich.
    Das Hauptgebäude war ein zweigeschossiger Bau aus den Siebzigerjahren. Von oben betrachtet, ergab er die Form eines schiefen, verkümmerten Hs, wie
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