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Der Grüne Strahl

Der Grüne Strahl

Titel: Der Grüne Strahl
Autoren: Jules Verne
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wie die ›Morning Post‹ sehr richtig be-
    merkte.
    Es hatte recht, das wohlinformierte Journal.
    Zunächst geht es um Ausmachen und Auswahl eines ge-
    eigneten Punkts der westlichen Küste, von dem aus die Er-
    scheinung überhaupt beobachtet werden konnte. Um einen
    solchen zu finden, mußte man wenigstens über den Busen
    des Clyde hinausgehen.
    In der Tat ist diese Einbuchtung seewärts des Firth of
    Clyde mit allerlei Hindernissen erfüllt, die das Gesichts-
    feld einschränken. Da sind die Kyles von Bute, die Insel Ar-
    ran, die Halbinsel Knapdale und Cantyre, Jura, Islay, lauter
    aus geologischer Epoche her verstreute Felsenmassen, die
    den größten Teil der Grafschaft Argyle zu einem Archipel
    umgestalten und es unmöglich machen, dort einen Kreis-
    abschnitt des Meeres zu entdecken, innerhalb welchem das
    Auge den Untergang der Sonne beobachten könnte.
    Wollte man nun Schottland selbst nicht verlassen, so
    mußte man sich mehr in den Norden oder den Süden des
    Landes begeben, wo sich ein unbegrenzter Fernblick bietet,
    und das auch noch vor dem Auftreten der Herbstnebel aus-
    führen.
    Wohin die Reise gehen würde, das war Miss Campbell
    gleich. Ob an die Küste von Irland, der von Frankreich, Nor-
    — 36 —
    wegen, Spanien oder Portugal – sie wäre überall mit hinge-
    gangen, wo das Strahlengestirn des Himmels sie beim Un-
    tergang mit seinem letzten Lichtblitz begrüßen konnte, und
    ob das den Brüdern Melvill paßte oder nicht, sie mußten ihr
    eben nachgeben.
    Die beiden Onkel beeilten sich also, das Wort zu er-
    greifen, nachdem sie sich einen fragenden Blick zugewor-
    fen hatten – aber was für einen Blick, und wie durchleuch-
    tete ihn der frohe Schimmer eines feinen diplomatischen
    Schachzugs!
    »Nun gut, meine liebe Helena«, begann Bruder Sam, »es
    ist ja ganz leicht, deinen Wunsch zu erfüllen. Wir wollen
    nach Oban gehen.«
    »Es liegt auf der Hand, daß es einen geeigneteren Punkt
    als Oban gar nicht geben kann«, fügte Bruder Sib hinzu.
    »Meinetwegen nach Oban«, versetzte Miss Campbell.
    »Aber hat Oban auch wirklich einen freien Meereshorizont
    vor sich?«
    »Das will ich meinen!« rief Bruder Sam.
    »Es hat vielleicht sogar zwei!« bestätigte Bruder Sib.
    »Gut, dann reisen wir dahin.«
    »Binnen 3 Tagen«, meinte einer der Onkel.
    »Binnen 2 Tagen«, sagte der andere, der es für angezeigt
    hielt, diese kleine Konzession zu machen.
    »Nein, morgen«, erklärte Miss Campbell aufstehend, da
    eben die Tischglocke läutete.
    »Morgen . . . jawohl, morgen!« sagte Bruder Sam klein-
    laut.
    — 37 —
    »Ich wünschte, wir wären schon da«, äußerte Bruder
    Sib.Sie sagten beide die Wahrheit. Warum aber diese Eile?
    Weil Aristobulos Ursiclos sich seit 14 Tagen zum Landauf-
    enthalt nach Oban begeben hatte; weil Miss Campbell, die
    davon nichts wußte, sich dort in Gesellschaft dieses jungen
    Herrn befinden würde, den sie aus allen Gelehrten erwählt
    hatten, während die Brüder Melvill gar nicht daran zweifel-
    ten, daß es in Oban entsetzlich langweilig war. Die jetzt et-
    was hinterlistigen Brüder setzten nämlich darauf, daß Miss
    Campbell es zeitig genug überdrüssig werden dürfte, ver-
    geblich auf einen geeigneten Sonnenuntergang zu harren,
    daß sie dann von ihrer etwas phantastischen Schrulle abse-
    hen und dem ihr zugedachten Verlobten die Hand reichen
    werde. Doch selbst wenn Helena das geahnt hätte, hätte das
    auf sie keinen Einfluß gehabt. Die Anwesenheit von Aristo-
    bulos Ursiclos wäre nicht dazu angetan, sie zu genieren.
    »Bet!«
    »Beth!«
    »Bess!«
    »Betsey!«
    »Betty!«
    Wieder schallte die ganze Rufnamenreihe durch den Sa-
    lon; diesmal aber erschien Mrs. Bess in eigener Person und
    empfing den Befehl, morgen alles zu einer bevorstehenden
    Abreise bereitzustellen.
    Es galt in der Tat zu eilen. Das jetzt über 30 3/10 Zoll
    (760 mm) hoch stehende Barometer versprach noch an-
    — 38 —
    haltend gutes Wetter. Wenn man morgen früh abreiste,
    konnte man noch zu guter Stunde in Oban eintreffen, um
    den Sonnenuntergang zu beobachten.
    Natürlich waren Mrs. Bess und Patridge wegen dieser
    plötzlichen Reise mit Arbeit überhäuft. Die 47 Schlüssel der
    wackeren Frau klirrten und klingelten wie die Schellen am
    Lederzeug eines spanischen Maulesels. Wie viele Schränke,
    wie viele Kästen gab es da zu öffnen und zu verschließen.
    Vielleicht blieb das Cottage in Helensburgh auf lange Zeit
    verlassen. Wer konnte die Launen von Miss Campbell ah-
    nen?
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