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Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)

Titel: Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
Autoren: Cheryl Strayed
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brach dann in Tränen aus. Mit meinem Bruder konnte ich nicht sprechen – Eddie und ich hatten keine Ahnung, wo er steckte. Nach Auskunft eines Freundes wohnte er in St. Cloud bei einem Mädchen namens Sue. Ein anderer hatte ihn beim Eisfischen am Sheriff Lake gesehen. Ich hatte keine Zeit, den Hinweisen nachzugehen, da ich jeden Tag von meiner Mutter in Anspruch genommen war, ihr Plastikschüsseln hinhielt, wenn sie sich übergeben musste, immer wieder die Kissen, die einfach nicht richtig liegen wollten, aufschüttelte und zurechtrückte, sie hochhob und auf den Topfstuhl setzte, den das Pflegepersonal neben das Bett gestellt hatte, sie drängte, einen Happen zu essen, den sie zehn Minuten später wieder erbrach. Die meiste Zeit sah ich ihr beim Schlafen zu, und das war von allem das Schlimmste. Zu sehen, wie ihr Gesicht selbst im Schlaf vor Schmerzen zuckte. Jedes Mal, wenn sie sich bewegte, gerieten die Infusionsschläuche, die überall um sie herumbaumelten, ins Schwingen, und mein Herz raste vor Angst, sie könnte die Nadeln, mit denen die Schläuche an ihren geschwollenen Händen und Handgelenken befestigt waren, herausreißen.
    »Wie fühlst du dich?«, gurrte ich immer hoffnungsvoll, wenn sie aufwachte, fasste durch die Schläuche und wuschelte durch ihre platt gedrückten Haare.
    »Ach, Schatz«, war meistens alles, was sie sagen konnte. Und dann sah sie weg.
    Ich wanderte durch die Krankenhausflure, während meine Mutter schlief, spähte in anderer Leute Zimmer, wenn ich an offenen Türen vorbeikam, erhaschte Blicke auf alte Männer mit schlimmem Husten und lila verfärbter Haut, auf Frauen mit Verbänden um ihre dicken Knie.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragten mich die Schwestern immer in melancholischem Ton.
    »Wir lassen uns nicht unterkriegen«, antwortete ich dann, als wäre ich ein Wir.
    Aber ich war nur ich. Mein Mann, Paul, tat alles, was er konnte, damit ich mich nicht so allein fühlte. Er war noch derselbe freundliche, liebevolle Mann, in den ich mich vor ein paar Jahren verguckt und so heftig verliebt hatte, dass ich zum Entsetzen aller mit knapp zwanzig heiratete, aber seit meine Mutter im Sterben lag, war etwas in mir für ihn abgestorben, ganz gleich, was er sagte oder tat. Trotzdem rief ich ihn an den langen Nachmittagen täglich vom Münztelefon im Krankenhaus an oder am Abend, wenn ich wieder im Haus meiner Mutter und Eddies war. Wir führten lange Gespräche, bei denen ich weinte und ihm mein Herz ausschüttete. Er weinte mit mir und versuchte, mir alles ein klein wenig erträglicher zu machen, aber seine Worte klangen hohl. Es war fast so, als könnte ich sie gar nicht hören. Was wusste er schon, wie es war, alles zu verlieren? Seine Eltern lebten noch und führten eine glückliche Ehe. Meine Beziehung zu ihm und seinem unverschämt ungebrochenen Leben schien meinen Schmerz nur zu verstärken. Er konnte nichts dafür. Das Zusammensein mit ihm war mir unerträglich, aber mit jedem anderen auch. Der einzige Mensch, mit dem ich zusammen sein konnte, war der unerträglichste von allen: meine Mutter.
    Morgens saß ich an ihrem Bett und versuchte, ihr vorzulesen. Ich hatte zwei Bücher: Das Erwachen von Kate Chopin und Die Tochter des Optimisten von Eudora Welty. Wir hatten beide am College gelesen und liebten sie. Also fing ich an, aber ich konnte nicht weiterlesen. Jedes Wort, das ich aussprach, löschte sich selbst in der Luft.
    Dasselbe geschah, wenn ich zu beten versuchte. Ich betete inbrünstig, fanatisch, zu Gott, zu jedem Gott, zu einem Gott, den ich weder benennen noch finden konnte. Ich verwünschte meine Mutter, weil sie mich nicht religiös erzogen hatte. Aus Verbitterung über ihre repressive katholische Erziehung hatte sie als Erwachsene nichts mehr mit der Kirche zu tun haben wollen, und jetzt lag sie im Sterben und hatte nicht einmal einen Gott. Ich betete zu dem ganzen weiten Universum und hoffte, dass Gott irgendwo da draußen war und mich hörte. Ich betete und betete, und dann stockte ich. Nicht weil ich Gott nicht fand, sondern weil ich ihn plötzlich gefunden hatte: Gott war da, begriff ich, aber er dachte gar nicht daran, ins Geschehen einzugreifen, das Leben meiner Mutter zu retten. Gott erfüllte keine Wünsche. Gott war ein mitleidloser Schuft.
    In den letzten Tagen ihres Lebens war meine Mutter mehr weggetreten als high. Sie hing mittlerweile an einem Morphiumtropf, aus einem Klarsichtbeutel sickerte Flüssigkeit einen Schlauch herunter, der an ihr Handgelenk geklebt
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