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Der Gipfel

Der Gipfel

Titel: Der Gipfel
Autoren: Anatoli Boukreev , G. Weston DeWalt
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einfachen Sätzen. Er wollte über den Everest reden, erzählte dabei jedoch nicht seine Geschichte, sondern stellte laut Fragen über das Geschehen. Er wollte begreifen, was er durchgemacht hatte.
    Am nächsten Tag trafen wir uns zu weiteren Gesprächen und ebenso am übernächsten. Unser gemeinsamer Freund vertraute mir an, daß Boukreev in der Nacht von Träumen geplagt wurde, von beängstigenden Träumen, in denen er hilflosen Kletterern, die er nicht finden konnte, Sauerstoff nachschub bringen mußte. Von den Träumen erzählte Boukreev mir nie, wohl aber von den Ereignissen am Everest, wie er zum Berg gekommen war und wie er ihn in den letzten Maitagen verlassen hatte. Seine Schilderungen waren weder dramatisiert noch ausgeschmückt. Eine Kanne Tee hatte bei ihm denselben rhetorischen Stellenwert wie das Verirren im Schneesturm. Ich lernte die Offenheit zu schätzen, mit der er meine Fragen beantwortete, Fragen, die mit meiner wachsen den Neugierde drängender und detaillierter wurden. Wir gingen dazu über, unsere Gespräche auf Band festzuhalten.
    Anfang Juni 1996 kamen Boukreev und ich überein, dieses Buch gemeinsam zu schreiben. Wir wollten zusammenarbeiten, doch erklärte ich ihm von vornherein, daß mein Interesse über seine persönlichen Erlebnisse hinausreichte und ich meine eigenen Fragen stellen wollte. Der Vorschlag sagte ihm zu. Einiges wußte er aus eigener Anschauung, anderes hatte er selbst nicht miterlebt. Daher war er so gespannt wie ich, wohin der Weg uns führen würde.
    Boukreev steuerte seine persönlichen Tagebücher, Briefe, Expeditionstagebücher und seine Erinnerungen bei. Er nahm die am Mount Everest verlorenen zwanzig Pfund wieder zu, und er lernte wieder zu lächeln. Ich besuchte die Bergsteiger, die mit ihm aufgestiegen waren, und die Freunde und Gefährten jener, die nicht zurückgekehrt waren. Mit Hilfe von Übersetzern, Dolmetschern und Freunden wurde diese Geschichte des Aufstiegs zusammengetragen, während sich weiterhin Tragödien ereigneten und unser Leben weiterging.

    G. Weston DeWalt, Santa Fe, New Mexico 

Kartenmaterial





1. Kapitel Mountain Madness
    Im März 1996 zeigte sich ein Gestirn, das nicht zu den bekannten Konstellationen gehörte, am nächtlichen Firmament über dem Himalaja. Mehrere Tage hintereinander zog der Stern, dessen Schweif sich in der Dunkelheit auffächerte, seine Bahn über das Gebirge. Der »Stern« war der Komet Hyakutake. Es war Anfang der Frühjahrssaison am Mount Everest (8848 m), jener Zeitspanne zwischen dem Rückzug des Winters und dem Nahen des Sommermonsuns, in der, historisch gesehen, die meisten erfolgreichen Everest-Expeditionen stattfanden. Das Auftauchen Hyakutakes wurde von den Sherpas, in deren Dörfern der kosmische Schmierstreifen Gegenstand sorgenvoller Gespräche war, als Zeichen drohenden Unheils angesehen.
    Die Sherpas, eine ethnische Gruppe, in Tibet beheimatet und heute größtenteils in den Hochtälern Nepals ansässig, leben zu einem guten Teil von Himalaja-Expeditionen. Sie verdingen sich als Träger, Köche und Yak-Treiber, übernehmen aber auch gefährlichere und einträglichere Aufgaben als Hilfspersonal in extremen Höhenlagen und begleiten die ausländischen Expeditionen in den entscheidenden Kampf: Geschicklichkeit und Ausdauer gegen lebensfeindliche äußere Bedingungen.
    Bis 1996 hatte der Mount Everest in den fünfundsiebzig Jahren seit dem ersten Gipfelsturm 1921 das Leben von über 140 Bergsteigern gefordert. Fast vierzig Prozent dieser Opfer waren Sherpas. Jede Störung der natürlichen Ordnung wurde daher von den Sherpas aufmerksam registriert.
    Kami Noru, Mitte dreißig, verheiratet und Vater von drei Kindern, gehört zur neuen Sherpa-Generation, die seit den fünfziger Jahren ihre traditionelle Tracht gegen Gore-Tex-Anoraks tauschte, um vom kommerziellen Bergsteigen zu leben. Wie in den vorangegangenen Jahren wurde Kami Noru auch 1996 von Himalayan Guides, einer Abenteuerreisen-Agentur im schottischen Edinburgh, als Sirdar – leitender Sherpa – für eine Everest-Expedition engagiert.
    Unter der Führung des bärtigen und stämmigen Engländers Henry Todd, einundfünfzig, ehemaliger Rugby-Spieler und jetzt Veranstalter kommerzieller Expeditionen, hatte sich Himalayan Guides den Ruf erworben, noch nie einen Kunden verloren zu haben. Todds praktische Veranlagung, sein sprichwörtliches Bergglück und die gute Zusammenarbeit mit Kami Noru hatten beiden Erfolg gebracht.
    Im Frühjahr 1995 hatte Todd
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