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Der Gelbe Nebel

Der Gelbe Nebel

Titel: Der Gelbe Nebel
Autoren: Alexander Wolkow
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der großen Welt bekannt
wurde, und die Zwerge machten davon Gebrauch, indem sie Chronik
führten. Die Kundschafter erzählten den Männern, die jeweils das Amt von
Chronisten versahen, alle Neuigkeiten, und diese schrieben sie sorgfältig
auf Pergamentrollen, die das kleine Volk mit viel Geschick aus Kalbshaut
herzustellen wußte. Diese Rollen häuften und häuften sich und füllten
schließlich einen ganzen Schrank. Sie enthielten einen wahrheitsgetreuen
Bericht über alles, was sich in den Jahrtausenden des Zauberschlafs
Arachnas ereignet hatte.
Die Zwerge verhielten sich zu der Chronik wie zu einem Heiligtum, und
wenn eine abgeschlossene Rolle in den Schrank gelegt wurde, wagte es
niemand mehr, sie anzurühren. So lagen die Rollen viele Jahrhunderte
ungenutzt da.

Die HEXE ARACHNA

DAS ERWACHEN
    Es war ein ungewöhnlicher Tag im kleinen Staat der Zwerge. Der
Morgen verlief wie gewöhnlich, doch um die Mittagszeit erschütterte
ein seltsamer Lärm die Höhle. Einigen kam er wie ein sehr lauter
Seufzer vor, anderen wie ein Windstoß oder wie das Gebrüll eines
riesigen Tieres. Die Luft in der Höhle geriet in Bewegung, und
mehrere Lichter erloschen. Von der Decke fielen kleine Steine, und das
Echo des unerklärlichen Lärms drang ins Freie und versetzte die
Umgebung in Aufregung. Die Zwerge, die sich im Tal befanden, liefen
so schnell sie konnten zur Höhle, aus der ihnen die erschreckten
Wachen entgegenstürzten. Verständnislos fragte man einander:
„Hast du gehört? Was soll das bedeuten? Ist das vielleicht
Weltuntergang?“
Nur der weise Kastaglio, der Älteste der Zwerge und ihr Chronist,
erriet, was geschehen war. Er erhob den Zeigefinger und rief mit
feierlicher Stimme:
„Unsere Herrin erwacht!“
    Kastaglio hatte recht. Das seltsame Gepolter hatte das Gähnen der
erwachenden Hexe verursacht. Dem ersten Gähnen folgten ein zweites und
dann noch eins, und von dem Gedröhn erloschen die restlichen Lichter,
zerbrachen die kleinen Tische, Stühle und Bettchen der Zwerge und
knackte es unheimlich in den Wänden der Höhle. Endlich war Arachna
wach. Ein schlafender Mensch merkt nicht den Lauf der Zeit, und der Hexe
schien es, als sei sie ebenerst den zahllosen Tieren entronnen, die der
mächtige Hurrikap auf sie gehetzt hatte. Nur verstand sie nicht, wohin die
Tiere verschwunden waren und warum sie, Arachna, auf dem Ruhelager in
ihrer Höhle lag. Sie rief:
„Hallo, ist jemand da? Er komme herein!“
Eine Schar Zwerge unter der Führung Kastaglios betrat zaghaft die Höhle
und bahnte sich einen Weg durch die Trümmer.
„Man hole Antreno!“ befahl die Hexe. „Er soll mir erklären, was hier
geschehen ist.“
„Einen Mann dieses Namens kennen wir nicht, Herrin“, wagte Kastaglio zu
sagen. „In unserem Stamm ist schon lange niemand so genannt worden.“
„Habe ich denn so lange geschlafen?“ fragte Arachna ungläubig.
„Soweit menschliche Erinnerung reicht, hast du viele Jahrhunderte geruht,
Herrin“, sagte der alte Zwerg. „Wir wissen nicht, wann und wie du
einschliefst und warum dein Schlaf so lange gedauert hat. Aber unsere
Pflicht haben wir niemals vergessen und deine Ruhe haben wir abgehütet,
so gut wir’s konnten.“
„Ich danke euch für eure treuen Dienste“, brummelte Arachna. „Hoffentlich
gebt ihr mir jetzt was zu essen, ich habe einen Mordshunger.“
Als Eßtisch diente Arachna ein hoher abgeplatteter Stein, der seit uralten
Zeiten neben der Höhlenöffnung stand. Die Zwerge bestiegen ihn mit
langen Leitern und zogen die Speisen mit Flaschenzügen hinauf, die
geschickte Meister vor vielen Jahrhunderten gebaut hatten. Die Hexe aß
den ganzen Vorrat auf und verlangte noch mehr. Als sie vier gebratene
Ochsen und drei Hammel, siebzehn Fasanen und vierundsechzig
Rebhühner mit gut zwei Dutzend Semmeln verspeist und ein volles Faß
Wasser ausgetrunken hatte, streichelte sie sich wohlig den Bauch und sagte:
„Nach einem solchen Mahl wird ein Schläfchen wohl nicht schaden.“
Sogleich fiel ihr aber ein, daß sie schon allzulange geschlafen und deshalb
ihre Geschäfte vernachlässigt hatte.
„Ich muß erfahren“, brummte sie, „wie lange der Schlaf gedauert hat, in
den mich nur Hurrikap versenken konnte.“
Sie fragte Kastaglio nach dem großen Zauberer, und es war ihr eine
Genugtuung zu hören, daß seit vielen Jahrhunderten niemand von einem
Zauberer dieses Namens gehört hatte.
„Hat sich also verrechnet, der Angeber!“ grinste Arachna.
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