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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer
Autoren: Franz Hohler
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hinaufstiege, bliebe auch er verschollen. Es würde sich nun niemand mehr hinaufwagen, man würde das Dach überfliegen, aber von oben wäre alles normal. Niemand könnte sich das Wegbleiben der drei Dachdecker erklären, bis in den Estrich würden sich die Mutigsten vorwagen und auch dort nichts finden, kein Versteck, keinen Unterschlupf, und auch rund um die Villa fände sich kein einziger Hinweis, dass etwa jemand hinuntergefallen wäre. Ein Teil des Materials, das der erste Dachdecker
mit sich genommen hätte, läge noch im Estrich unter der Luke, aus der er ausgestiegen wäre, aber schon das Seil, mit dem er sich angebunden hätte, wäre auf dem Dach nirgends mehr zu sehen.
    Würde ich von einem solchen Vorkommnis hören, dann könnte ich es sofort erklären, ich sehe ganz genau, was da vor sich gegangen ist.
     
    Der Dachdecker, der durch die Luke aufs Dach gestiegen ist, sichert sich zuerst, indem er an der Innenseite der Luke ein Seil befestigt, welches er sich selbst um den Bauch bindet, da es ein sehr steiler Teil des Daches ist, den er ausbessern soll. Dann begibt er sich zu der schadhaften Stelle, die schräg unter ihm liegt, um sie genau anzuschauen, ehe er mit der Arbeit beginnt. Bevor er aber dort angelangt ist, spürt er einen Ruck und merkt, dass das Seil schon ganz angespannt ist. Das wundert ihn, weil er geglaubt hat, es sei lang genug, und er schaut sich um. Da bemerkt er, dass sich das Seil bloß eingehakt hat, und zwar an einem kleinen Türmchen, das aus dem Dach ragt. Er geht zwei Schritte zurück und macht das Seil vom Türmchen los. Dabei fällt ihm auf, dass er das Türmchen vorhin übersehen hat, es sieht aus wie ein Kamin, ist aber zu klein dafür, wahrscheinlich ist es also ein Zierkamin, wie er manchmal auf Dächern dieser Art anzutreffen ist. Seltsamerweise ist aber ein ovales, leicht nach außen gewölbtes Bild an der Dachseite des Türmchens angebracht, es zeigt auf bräunlichem Hintergrund einen bräunlichen Mann mit einem Schnauz und einem Stehkragen, und darunter in zusammenhängenden Buchstaben die Inschrift »Il Dottore«. Das
hat der Dachdecker noch nie gesehen, und es ist nicht verwunderlich, dass er eine Weile stehenbleibt und dieses Bild betrachtet. Dann ist zu sehen, wie er den Kopf schüttelt, und man hört deutlich, wie er sich räuspert, bevor er wieder zur schadhaften Stelle absteigt. Jetzt ist er dort angelangt und überblickt sie, insgesamt fehlen acht Ziegel, wahrscheinlich sind sie herausgerutscht und über das Dach hinunter in den Garten gefallen, das kann es geben bei stürmischem Wetter. Aber da sieht er, dass von der oberen Reihe – es sind zwei Reihen zu vier Ziegeln – noch Stücke unter den nächstoberen Ziegeln stecken, dass also die oberen Ziegel abgebrochen sind, dass also offenbar ein Gegenstand auf diese Stelle des Daches gefallen sein muss. Er schaut nun in das Loch hinein, in der Erwartung, auf dem Estrich einen großen Stein oder sonst ein Geschoss zu sehen, das diesen Bruch verursacht hätte. Es geht eine Weile, bis sich seine Augen an das Dunkel im Estrich gewöhnt haben, dann sieht er einen Apfel am Boden liegen und darum herum einige Teile von Ziegeln. Er späht in alle Ecken des Dachbodens, aber er sieht nichts außer diesem Apfel. Dass ein Apfel eine derartige Wirkung haben sollte, kann er sich nicht vorstellen, auch dass jemand diesen Apfel so hoch werfen konnte, dünkt ihn unwahrscheinlich, zudem scheint der Apfel überhaupt nicht beschädigt zu sein. Wie er den Kopf wieder aus der Luke zieht, hört er über sich ein Rauschen, blickt hinauf und sieht, was ihm vorher nicht aufgefallen ist, auf dem Dachfirst einen Apfelbaum. Nun wird er stutzig. Dass er das übersehen haben soll? Er beschließt, zum Dachfirst hinaufzusteigen, sieht aber, dass das Seil nicht reichen wird, und bindet
sich deshalb los. Dies ist allerdings schwieriger, als er erwartet hat, weil sich das Seil inzwischen mit einer schlüpfrigen schwarzen Schicht überzogen hat, von der ihm nicht klar ist, woher sie kommt und woraus sie besteht. Der Geruch zwar erinnert ihn an gekochte Schnecken. Nun hat er sich losgebunden und steigt vorsichtig zum Dachfirst hinauf, wo er, kaum angekommen, sogleich den Stamm des Apfelbaums betastet und feststellt, dass es ein richtiger Baum ist, er sieht auch, dass seine Wurzeln in den Ziegeln verschwinden, wie wenn es Erde wäre, und kein Ziegel ist zersplittert oder zeigt auch nur einen Spalt, wie man das etwa von Mauern kennt, in die sich ein
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