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Der Geisterfahrer

Der Geisterfahrer

Titel: Der Geisterfahrer
Autoren: Franz Hohler
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will, kann es sein, dass er sagt: »Wir bitten Sie um Entschuldigung für die kleine Störung, der Präsidentschaftskandidat hat in seiner heutigen Pressekonferenz nicht gesagt, das ist der Rand von Ostermundigen, sondern das ist der Rand von Ostermundigen.«
    Natürlich tun die Behörden das möglichste, um diesem Mann auf die Spur zu kommen. So hat man die Bevölkerung gebeten, jedes Auftauchen des Satzes »Das ist der Rand von Ostermundigen« in einem Telefongespräch zu melden, und es hat sich herausgestellt, dass dieser Satz häufiger gesprochen wird, als es einem einzelnen möglich wäre. Gegenwärtig findet die größte Suche statt, an die man sich in diesem Land erinnern kann, Peilgeräte, mit denen man sonst Schwarzhörer ermittelt, werden zusammen mit Polizei und Militär zur Auffindung und Vernichtung dieses Satzes eingesetzt, der sich indessen immer mehr verbreitet.
    Neuerdings hat er sich auch des Fernsehens bemächtigt. In einer Diskussion über Wohnbauprobleme wollte gerade ein Vertreter der Bauunternehmer auf die gestiegenen Produktionskosten hinweisen, als es auf dem Bildschirm dunkel wurde und man den Satz hörte: »Das ist der Rand von Ostermundigen.« Seither ist auch keine Fernsehsendung mehr gegen diesen Satz gesichert, nur sind die Aussagen darüber, was man während des Satzes sehe, sehr verschieden.
    Einige Leute behaupten, sie sähen, wenn es dunkel
werde, ganz schwach das Gesicht eines alten Mannes mit einem Bart, andere glauben während dieser Zeit einen Raubvogel wahrzunehmen, der seinen Kopf ruckartig auf sie zudreht, die Mehrzahl der Leute aber, die den Einbruch des Satzes erleben, machen die Aussage, sie sähen während des Satzes auf dem Bildschirm sich selber.
    Noch etwas muss gesagt werden, und zwar zu der angestrengten Suche nach dem Urheber des Satzes. Auch wenn diese Suche, woran ich übrigens zweifle, den Erfolg haben sollte, dass man eines Tages in einer Felshöhle oder einem Keller eine Sendeanlage entdeckt, dann wäre damit der Satz »Das ist der Rand von Ostermundigen« nicht mehr rückgängig zu machen.
    Schlagen Sie eine beliebige Tageszeitung auf und lesen Sie sie von vorn bis hinten durch – irgendwo werden Sie den Satz lesen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, kleingedruckt neben dem Kremationsdatum in einer Todesanzeige, oder als Legende zum Bild eines Rennfahrers, der eine Etappe gewonnen hat.
    Jeder fürchtet sich heute davor, einen Brief zu schreiben, aus Angst, es könnte darin stehen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, jeder fürchtet sich heute davor, eine Ansprache zu halten, aus Angst, er könnte sagen »Das ist der Rand von Ostermundigen«, anfangs haben viele diesen Satz zum Spaß gesagt, heute macht niemand mehr einen Witz damit, die Leute haben Angst bekommen zu sprechen, und zwar in jeder Situation, stellen Sie sich vor, ein Metzger zeigt einer Kundin ein Stück Rindfleisch und sagt dazu: »Das ist der Rand von Ostermundigen.«
    Wohin das noch führen wird, ist schwer abzusehen. Im
Moment scheint sich eine Möglichkeit zu zeigen, wie man diesen Satz zwar nicht ausrotten, aber unter Kontrolle bringen könnte.
    Ein Mann aus der Politik, welcher eine Rede halten musste und befürchtete, er könnte vom Satz überrascht werden, versuchte ihn dadurch zu überlisten, dass er die Rede mit den Worten anfing: »Meine Damen und Herren, das ist der Rand von Ostermundigen!« Man hätte nun denken können, dass auch dies nichts nützte, ja dass er dadurch erst recht den Satz nochmals heraufbeschworen hätte, aber dies war nicht der Fall, er konnte ungestört weiterfahren.
    Das ist bekannt geworden, und wer sich jetzt gegen den Satz schützen will, kann ihn einfach freiwillig aussprechen und wird dann nicht mehr von ihm betroffen. In diesen Tagen gehen viele zu dieser Methode über, das Radio beginnt seit gestern seine Sendungen mit der Ansage, guten Tag, liebe Hörerinnen und Hörer, das ist der Rand von Ostermundigen, die Zeitungen haben beschlossen, den Satz als Untertitel zu drucken, Lehrer fangen ihre Schulstunden so an, Bekannte, die sich antreffen, begrüßen sich mit diesen Worten, und ich, der ich Geschichten schreibe, habe mir jetzt dadurch geholfen, dass ich eine Geschichte über diesen Satz geschrieben habe.
     
    Ich finde aber, das ist auf die Dauer keine Lösung. Es geht doch nicht, dass wir uns mit diesem Satz abfinden, es geht doch nicht, dass wir diesem Satz nicht Meister werden, dass wir uns diesem Satz einfach unterziehen, diesem Satz, der
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