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Der geheime Garten

Der geheime Garten

Titel: Der geheime Garten
Autoren: Frances Hodgson Burnett
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gestorben?«, rief sie, ohne es zu wollen. Sie hatte sich gerade an eine französische Geschichte erinnert, die sie einmal gelesen hatte. Diese hieß »Riquet à la Houppe«, und darin war die Rede von einem armen Buckligen und einer schönen Prinzessin. Sie hatte plötzlich Mitleid mit Mr. Archibald Craven.
    »Ja, sie starb«, antwortete Mrs. Medlock. »Und er wurde wunderlicher als je zuvor. Er liebt niemanden. Er möchte keinen Menschen sehen. Meist ist er fort, aber wenn er in Misselthwaite ist, schließt er sich im Westflügel ein, und außer Pitcher darf niemand zu ihm. Pitcher ist ein alter Diener, der schon lange für ihn sorgt und seine Eigenheiten kennt.«
    Es klang wie eine Erzählung aus einem Buch, und sie machte Mary nicht froh. Mit zusammengepreßten Lippen starrte sie aus dem Fenster, und es paßte gut zu ihrer Stimmung, daß es zu regnen begonnen hatte.
    »Du brauchst nicht zu denken, daß du ihn jemals sehen wirst«, sagte Mrs. Medlock. »Und du mußt nicht erwarten, daß da Leute sind, die mit dir sprechen. Du kannst spielen und auf dich selbst achtgeben. Man wird dir sagen, in welche Zimmer du gehen darfst und in welche nicht. Gärten gibt es genug. Aber wenn du im Hause bist, wirst du nicht herumlaufen und neugierig herumschnüffeln. Das wünscht Mr. Craven nicht.«
    »Ich habe nicht vor, neugierig herumzuschnüffeln«, sagte Mary trotzig. Und so plötzlich wie sie Mitleid mit Mr. Craven empfunden hatte, gab sie das Gefühl wieder auf. Wenn er ein so unangenehmer Mann war, verdiente er sicher alles Böse, das ihm zugestoßen war.
    Sie wandte ihr Gesicht wieder der nassen Scheibe des Eisenbahnwagens zu und starrte in den grauen, stürmischen Regen hinaus, der so aussah, als wolle er niemals aufhören. Sie starrte so lange, bis die graue Leere vor ihren Augen schwerer und immer schwerer wurde und sie einschlief.

Quer durch das Moor
    Sie schlief lange, und nachdem sie aufgewacht war, kaufte Mrs. Medlock auf einer Station heißen Tee, Hähnchen, Aufschnitt, Brot und Butter. Der Regen schien noch heftiger geworden zu sein. Alle Leute auf dem Bahnhof liefen in nassen, glänzenden Regenmänteln umher. Der Schaffner kam ins Abteil und zündete die Lampen an. Mrs. Medlock freute sich sichtlich über den Tee, das Hähnchen und den kalten Aufschnitt. Sie aß eine Menge davon und schlief dann gleich ein. Mary saß und starrte die Frau an. Sie beobachtete, wie die Haube langsam auf ein Ohr hinunterrutschte. Schließlich schlief sie, durch das monotone Rattern des Zuges eingelullt, auch wieder ein. Als sie erwachte, war es draußen sehr dunkel. Mrs. Medlock rüttelte sie wach.
    »Du hast aber fest geschlafen«, sagte sie. »Es ist Zeit, wir sind in Thwaite und haben noch eine lange Wagenfahrt vor uns.« Mary stand auf und bemühte sich, ihre Augen offenzuhalten, während Mrs. Medlock die Gepäckstücke zusammenraffte. Mary versuchte nicht, ihr dabei zu helfen. In Indien war es ganz selbstverständlich gewesen, daß die eingeborenen Diener alles zusammensuchten und selber trugen.
    Der Bahnhof war klein. Der Stationsvorsteher sprach mit Mrs. Medlock. Es klang rauh, aber gutmütig. Er dehnte die Worte seltsam breit. Mary lernte später, daß er so sprach wie alle Leute in Yorkshire.
    »Da sind Sie ja wieder«, sagte er. »Und die Kleine haben Sie mitgebracht.«
    »Ja, das ist sie«, antwortete Mrs. Medlock und deutete mit dem Kopf auf Mary. Auch Mrs. Medlock sprach jetzt Yorkshire-Mundart.
    »Wie geht es Ihrer Frau?«
    »Nicht schlecht! Der Wagen wartet draußen auf Sie.«
    Eine Kutsche stand vor dem Bahnhof. Mary sah, daß es ein eleganter Wagen war, und ein fein gekleideter Kutscher half ihr hinauf. Sein langer Regenmantel glitzerte vor Nässe, ebenso sein Regenhut.
    Der Kutscher Schloß die Wagentür, kletterte auf den Kutschbock, und die Fahrt begann. Mary fand sich, gemütlich in Kissen verpackt, in den Polstern des Wagens wieder, aber sie dachte nicht länger ans Schlafen. Sie saß und schaute auf den Weg, der zu dem seltsamen Haus führte, von dem Mrs. Medlock gesprochen hatte.
    Sie war durchaus kein ängstliches Kind, aber sie mußte doch daran denken, was wohl alles in einem Haus geschehen mochte, das hundert Zimmer hatte, von denen die meisten verschlossen waren. Dazu lag es noch am Rande des Moores.
    »Was ist das — ein Moor?« sagte sie zu Mrs. Medlock.
    »Schau aus dem Fenster, nach zehn Minuten wirst du es sehen«, antwortete die Frau. »Wir müssen ungefähr fünf Meilen durch Misselmoor fahren,
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