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Der freundliche Mr Crippen | Roman

Der freundliche Mr Crippen | Roman

Titel: Der freundliche Mr Crippen | Roman
Autoren: John Boyne
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ein faszinierendes Mädchen zu sein.«
    »Das würde ich auch sagen«, antwortete ihre Mutter, der das ziemlich gleich war. »Aber hast du ihren Bruder gesehen, Luke Hartford? Ich glaube, dem hast du sehr gefallen, und er ist wohlhabend und sieht gut aus, meinst du nicht auch?«
    Victoria runzelte die Stirn und versuchte, sich den Erwähnten vor Augen zu rufen.
    »Ich kann mich nicht an ihn erinnern«, sagte sie. »Er ist mir nicht aufgefallen. Aber ich habe mich für morgen mit Miss Hartford zum Mittagessen verabredet.«
    »Ach, Victoria!«, sagte Mrs Drake voller Enttäuschung über das mangelnde Interesse ihrer Tochter an potenziellen Ehekandidaten.
     
    »Da kommen sie«, sagte Louise Smythson, beugte sich auf ihrem Platz vor und erwartete aufgeregt das Urteil.
    Im Gerichtssaal wurde es still.
    »Sprecher der Jury«, intonierte der alte Richter, dessen Perücke das gesamte Gesicht verschattete. »Sind Sie zu einem Urteil gekommen, dem Sie alle zustimmen?«
    »Das sind wir, Euer Ehren.«
    »Und wie lautet Ihr Urteil: schuldig oder nicht schuldig?«
    Der Sprecher schluckte und räusperte sich. Er war sich bewusst, dass die ganze Welt auf seine Worte wartete. Er verspürte den überwältigenden Drang zu singen, dem er, das muss ihm zugutegehalten werden, widerstand. Die Luft war voller Spannung, und niemand atmete, während alle auf die Antwort warteten.
    »Nicht schuldig«, sagte er zur Überraschung aller.
     
    Einige Wochen später, am Morgen des 23 . November 1910 , ging Ethel LeNeve in einem schwarzen Kleid und mit einem Schleier, die Hände in einem Muff, den Gang des Pentonville-Gefängnisses hinunter zu der Zelle, in der Dr. Hawley Harvey Crippen festgehalten wurde. Sie hatte die ganze Nacht geweint und konnte sich kaum vorstellen, wie der Rest des Tages werden würde. Zu ihrer Überraschung waren die Zellen sauberer, als sie gedacht hatte. Als die Tür zu Hawleys Zelle geöffnet wurde, sah sie ihn entspannt in einer Ecke sitzen und ein Buch lesen. Er stand auf, als er sie sah, lächelte sie voller Wärme an, schloss sie in die Arme und küsste sie zärtlich. Er war dünner geworden, das bemerkte sie gleich, schien aber keine Angst vor dem Kommenden zu haben.
    »Mein Liebster«, sagte sie, setzte sich mit ihm hin und brach in Tränen aus, »sie sagen, ich habe nur ein paar Minuten.«
    »Ethel«, sagte er und umarmte sie wieder. »Weine nicht, sonst fange ich auch noch an. Das ist heute ein guter Tag.«
    »Wie kann er das sein?«, fragte sie verzweifelt. »Was habe ich dir bloß angetan?«
    »Gar nichts hast du mir angetan«, sagte er, und sie staunte, wie ausgeglichen er schien. »Der glücklichste Augenblick meines Lebens war, als ich hörte, dass man dich für nicht schuldig erklärte.«
    »Aber ich bin die Schuldige«, protestierte sie, »nicht du.«
    »Ich bin genauso schuldig«, sagte er und schüttelte den Kopf. »Ich war so froh, dass Cora tot war. Mir hat sogar gefallen, wie sie gestorben ist.«
    »Ja, aber du hast sie nicht getötet. Ich könnte mich immer noch schuldig bekennen, weißt du, ich könnte ihnen sagen …«
    »Das darfst du nicht«, sagte er bestimmt. »Du musst mir versprechen, das nicht zu tun. Ich sterbe sowieso. Wenn du etwas zugibst, führt das nur dazu, dass du mich auf meinem Weg begleitest, und das würde ich nicht ertragen.«
    »Aber ich
will
mit dir kommen.«
    »Du bist eine junge Frau, Ethel. Du hast dein ganzes Leben noch vor dir, und du kannst dich an mich erinnern. Ich bin glücklich, weil ich als jemand sterbe, der geliebt wird, und ich erinnere mich nicht, während meines
Lebens
geliebt worden zu sein, ehe ich dich kennengelernt habe.«
    Ethel schüttelte verzweifelt den Kopf. »Es kommt mir so unfair vor«, sagte sie, »dass du für mein Verbrechen sterben sollst.«
    »Ich habe keine Angst vor dem Tod«, sagte er. »Aber wenn ich wüsste, dass dich das gleiche Schicksal ereilte, würde ich verzweifelt sterben. So wie die Dinge stehen, habe ich ein reines Gewissen, und ich bin vorbereitet.«
    Der Wärter erschien und bedeutete Ethel, dass ihre zwei Minuten abgelaufen waren. Sie konnte kaum mehr weinen, und sie hielten sich noch einen Moment umschlungen, bevor Ethel weggeführt wurde, aus Liebe protestierend.
    Hawley drehte sich um und sah zu dem vergitterten Fenster über sich, durch das Licht hereinströmte. Wenn er sich auf Zehenspitzen auf das Bett stellte, konnte er hinaussehen, und das tat er jetzt. Er beobachtete, wie Ethel das Gebäude verließ und langsam die
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