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Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast

Titel: Der fremde Gast - Link, C: Der fremde Gast
Autoren: Charlotte Link
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… diesem Vorhaben nicht gewachsen. Zu viele Bilder … verstehst du? Zu vieles, das wieder … auftauchte …« Seine Sprechweise wurde immer schleppender. Inga brannten tausend Fragen auf den Lippen, aber sie begriff, dass sie ihn zu sehr anstrengte. Vielleicht würden sie beide dieses Drama überstehen, dann bliebe endlose Zeit, über alles zu sprechen. Aber nicht jetzt. Marius war schwer verletzt. Er brauchte seine ganze Kraft, um am Leben zu bleiben.
    »Versuch zu schlafen«, bat sie, »du erklärst mir alles später. «
    »Ich … bin sehr müde.«
    »Ich weiß. Schließ einfach die Augen. Es ist jetzt nur wichtig, dass du gesund wirst.« Es ist mir wirklich wichtig, dachte sie fast erstaunt, trotz allem, was war. Ich will eine zweite Chance für ihn.
    Sie betrachtete sein Gesicht. Er hatte die Augen geschlossen, seine Lider zuckten. Sie kannte jede Linie in seinen Zügen, und die Vertrautheit erfüllte sie mit Wärme. Der Ausdruck dieses Gesichts hatte sie zu Anfang fasziniert, später irritiert und irgendwann mit Furcht erfüllt: Es war die jungenhafte, fröhliche Unbekümmertheit, die man auf den ersten Blick wahrnahm, um dann zu erkennen, dass darunter sehr alter Schmerz, tiefe Verletzungen ihre Spuren hinterlassen hatten. Marius war ein Maskenträger. Er hatte zu viel
durchlitten, um anders als im Zustand einer andauernden Tarnung überleben zu können.
    Zärtlich streichelte sie den eigenwilligen Haarbüschel über seiner Stirn. Marius öffnete die Augen, sah sie an. Sehr mühsam hob er den Arm, berührte vorsichtig mit der Hand die geschwollene Haut um Ingas Auge. Sie zuckte vor Schmerz unter dieser Berührung.
    »Es tut mir Leid«, sagte er leise, »das hier tut mir sehr Leid.«
    »Mach dir keine Sorgen deswegen. Schlaf jetzt.« Sie lächelte. Er erwiderte ihr Lächeln.
    Und in genau diesem Moment hörten sie, wie der Schuss fiel. Er durchbrach die Stille des heißen, provenzalischen Vormittags laut und brutal.
    Beide, Marius und Inga, fuhren entsetzt zusammen. Marius versuchte sich aufzusetzen, sank aber sogleich wieder auf den Boden zurück.
    »Scheiße«, flüsterte er heiser, »er hat Rebecca abgeknallt! «
    Inga zitterte am ganzen Körper. »Und gleich kommt er zu uns.« Sie schluckte. Ein großer, heißer Ballen Watte schien ihren Mund auszufüllen.
    Zu spät. Wann immer die Polizei kommt, es wird zu spät sein. Es wird zu spät sein.
    Sie starrte auf die Tür und wartete auf die Schritte, die jeden Moment auf der Treppe erklingen mussten.
    Sie wartete darauf, ihrem Mörder gegenüberzustehen.
    Aber alles blieb still, und nichts regte sich im Haus.

Montag, 2. August
    Ein warmer Wind strich vom Meer herauf zu den Felsen, die noch heiß waren von der Sonne des Tages. Ein rotes Licht erhellte den westlichen Horizont, aber die Dunkelheit des Augustabends senkte sich schon über das Land, und die Wellen, die tief unten in die Bucht rauschten, waren schwarz und geheimnisvoll. Stimmen wisperten in den Bäumen und Gräsern. Nicht mehr lange, und die ersten Sternschnuppen würden über den nächtlichen Himmel jagen und ins Meer fallen.
    Rebecca saß auf einem flachen Stein, und es hatte den Anschein, als sei sie völlig in Gedanken vertieft, aber sie hatte die leisen Schritte gehört, die sich näherten, und sah auf. Inga kam herangehinkt, sie zog den verletzten, dick verbundenen Fuß etwas nach. Ihr Auge war noch immer verschwollen, aber sie hatte sich geschminkt, und es war ihr gelungen, wenigstens die schillernde blaugrüne Farbe der Haut einigermaßen abzudecken. Sie sah wieder menschlich aus, nicht mehr wie das ausgemergelte Schreckgespenst, das sie noch zwei Tage zuvor gewesen war.
    Aber ich, dachte Rebecca, war ja auch mehr tot als lebendig.
    »Setz dich zu mir«, sagte sie. »Wie geht es Marius?«
    »Besser. Ich habe mit dem Arzt gesprochen, er meint, dass Marius Ende der Woche nach Hause kann. Die Kugel hat keine wichtigen Organe getroffen, aber er hat sehr viel Blut verloren und ist äußerst schwach. Er war ja schon vorher in einem schlechten körperlichen Zustand.«

    »Aber er wird es überleben. Das ist das Wichtigste.«
    »Ja. Sein Überleben steht außer Zweifel«, bestätigte Inga. Sie setzte sich neben Rebecca auf den Felsen, atmete tief die salzige Luft. »Welch ein wunderbarer Abend. Und welch ein Wunder, dass wir ihn erleben.«
    »Ja. Das ist es.« Rebecca berührte mit der flachen Hand den warmen Stein. Alles, auch solch eine Berührung, trug seit jenen Nächten einen besonderen
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