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Der Fluch des Florentiners

Der Fluch des Florentiners

Titel: Der Fluch des Florentiners
Autoren: ackermann
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kleine Teile zu zerfetzen. Er sah den Zeitzünder und war sich todsicher, dass irgendjemand hier im Palazzo Pitti gleich auf einen Knopf drücken und die funkgesteuerte Sprengladung zünden würde. Er verstand nur nicht, warum. Denn von den kostbaren Schmuckstücken in der Vitrine, von den unvorstellbar wertvollen goldenen Colliers, Broschen, Armreifen, Haarnadeln und Ringen, den goldenen Insignien des Herrschergeschlechts der Medici und anderer abendländischer Fürsten, würde nichts übrig bleiben. Nur deformiertes Metall, das nichts wert sein würde. Nein, er verstand nicht, was da direkt vor seinen Augen gleich geschehen würde.
    Leonardo Frattini hörte wie aus weiter Ferne das unsagbar grelle Schrillen der Alarmanlage, ausgelöst durch die abrupten Bewegungen des Jungen, der sich über die rote Absperrkordel gebeugt und blitzschnell die Knetmasse an die Vitrine geklebt hatte. Er hörte das Hallen der schnellen Schritte des davonlaufenden Jungen auf dem Marmorboden. Er vernahm verwundert murmelnde Besucher, sah erstaunte Gesichter und sah seinen Kollegen Vincenzo aus dem Nebenraum hereineilen. Vincenzo sah wie immer sehr lächerlich aus mit seinem dicken Bauch in der viel zu engen Uniform und mit der leger in den Nacken geschobenen Schirmmütze. Der sardische Hirte und Exfremdenlegionär Leonardo Frattini sah in diesen Sekunden viel, hörte alles, verstand aber nicht , was da vor sich ging. Den kleinen, arabisch aussehenden Jungen hatte er zwar kurz beobachtet, als dieser vor wenigen Minuten in den Raum gekommen war. Er hatte irgendwie hilflos ausgesehen, als suche er Rat oder seine Eltern. Mit großen Augen der Begeisterung hatte der Kleine mit dem Unschuldsblick eines Kindes im Ausstellungsraum herumgeschaut und war dann vor der Vitrine, in der rechten Ecke des Salons, nahe dem Fenster stehen geblieben. Warum sollte man als Wärter im Palazzo Pitti einem Kind Misstrauen entgegenbringen? Ein Kind im Alter seiner Enkelin Francesca würde wohl kaum auf die wahnwitzige Idee kommen, Ausstellungsstücke aus den Königsgemächern, Bilder aus der palatinischen Galerie, Preziosen der Medici oder Gemälde von Michelangelo, der Maria de Medici so wunderschön gemalt hatte, zu stehlen. Zumal das ohnehin schier unmöglich war. Die Alarmanlagen des Palazzo Pitti galten unter Experten als perfekt. Bewegungsmelder, Infrarotsensoren, Überwachungskameras, Panzerglasvitrinen: Nein, jeder Versuch, diese kostbaren Schätze zu stehlen, war zum Scheitern verurteilt. Auch das war ein Grund, warum Leonardo Frattini nicht begriff, was da um ihn herum geschah.
    Er ärgerte sich vielmehr ein wenig darüber, dass er wie zu einer Salzsäule erstarrt vor der Vitrine mit dem Plastiksprengstoff stand: unfähig sich zu bewegen, unfähig etwas zu unternehmen. Er fühlte sich so, wie sich ein Soldat fühlt, der auf eine jener Landminen getreten ist, die nicht explodieren, wenn man auf sie tritt, sondern erst dann, wenn der Fuß sich hebt und der tödliche Mechanismus ausgelöst wird. In solchen Momenten wird einem bewusst, dass es völlig egal ist, was man selbst tut. Man kann nur warten – und hoffen. Genau so fühlte Leonardo Frattini sich in jenem Moment , einen Schritt entfernt von der mit Goldschmuck und Edelsteinen so prachtvoll dekorierten Vitrine im Palazzo Pitti, unterhalb des Giardino di Boboli von Florenz. Die Alarmanlage schrillte noch immer. Irgendwie klang sie erbärmlich mickrig. Sein Kollege Vincenzo stand ebenfalls vor der Vitrine und starrte auf die Knetmasse. Fragend blickte er dem arabischen Jungen hinterher. Dann drehte er sich zu seinem Kollegen um. Leonardo blickte Vincenzo an. Und beide wussten, dass es Sprengstoff war, der jeden Augenblick explodieren würde.
     
    I n jenem Moment befand sich der kleine Araber bereits vor dem Fenster rechts neben der Zwischentür. Blitzschnell fuhr seine Hand in die Tasche seines Kaftans, zuckte hervor, streckte sich in Richtung des abgedunkelten Fensters, von dem man ansonsten von der zweiten Etage herab einen wunderschönen Blick über die hinter dem Palazzo liegenden Boboli-Gärten hatte. Der Junge zog seine Hand zurück. An dem mit Panzerglas und Alarmanlagen gesicherten Fenster in der zweiten Etage klebte plötzlich ebenfalls eine graue Masse mit einem kleinen Metallröhrchen darin.
    Der Junge rannte los und verschwand durch die Verbindungstür zum Nebenraum.
    Bruchteile von Sekunden später war Leonardo Frattini aus dem kleinen Dorf Lu Fraili in Sardinien, seit fünfzehn Jahren
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