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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Sergej Lukianenko
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das für Blödmänner wie mich schwer zu merkende Passwort »gfhjkm« eingebe.
    »Ich bin nur auf einen Sprung hier. Gestern Abend bin ich auf einer Sache sitzen geblieben.« Ilja sieht mit finsterer Miene in seinen Spind. Er ist um die dreißig, einigermaßen muskelbepackt und fit, sein Haar kurz geschnitten, das Gesicht individuell. Das ist bestimmt nicht sein Werk, sondern die Arbeit eines guten Image-Designers. »Vielleicht kann ich den Brief ja heute abliefern. «
    Endlich hat er den Spind aufgeschlossen und zieht einen in sich zusammengefallenen Körper hervor, der klein und mager ist und einem zwölfjährigen Jungen gehören mag.
    »Nur zu, der beißt schon nicht!«, ermuntere ich ihn.
    Es durchzuckt den Jungen, als habe er einen galvanischen Schlag bekommen. Als er sich nun zu mir umdreht, hält er den Mann, der ihn eben aus dem Schrank gezogen hat, in der Hand. Der ist jetzt nur noch eine Aufblaspuppe mit ausdruckslosen Augen, die kaum etwas wiegt.
    »Halt die Klappe!«, fährt mich der Junge mit dünner Stimme an. »Deine blöden Witze kannst du dir echt sparen!«
    »Welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«, entgegne ich, den Blick fest auf meinen Spind gerichtet.
    »Geht dich gar nichts an!« Der Junge stopft den kräftigen Herrn mit ein paar Boxschlägen in den Spind. Der Körper krümmt sich, als sei er aus Wachs. Der Fuß samt Lackschuh steht in einem unglücklichem Winkel ab, die Krawatte hat sich aus dem Jackett hervorgekämpft. »Ich hab die Schnauze gestrichen voll!«
    »Wollen wir tauschen?«, schlage ich vor. »Du übernimmst die Lasten, ich die Telegramme?«
    Mein Körper für diesen Job wiegt ebenfalls nichts. Der Typ ist zwanzig Jahre alt und ein echtes Muskelpaket in Overall. Sein Gesicht ist naiv bis dämlich.
    Solche Burschen haben vor zwanzig Jahren auf allen Plakaten den Kommunismus aufgebaut – sodass du nie im Leben auf die Idee kämst, dass der Avatar in den USA gezeichnet worden ist.
    Natürlich habe ich diesen Körper weder designt noch nach eigenen Wünschen anfertigen lassen, sondern mich mit dem Standardmodell von Windows Home zufrieden gegeben. Ich sehe ihm in die leeren Augen, schmiege meine Stirn gegen seine …
    Als ich den Biker in den Spind quetsche, gehe ich nicht weniger brutal vor als Ilja eben.
    »Wieso sehen deine Körper eigentlich alle gleich aus?« Der Junge hackt auf die Knöpfe ein, um seinen Spind zu verschließen.
    Auch sein neuer Körper ist kein Serienprodukt und ebenfalls von hervorragender Qualität. Ein sympathischer rotblonder Junge mit pfiffigen Augen und einem mehr oder weniger unverwüstlichen Dauergrinsen.
    »Kostet schließlich einiges, sich eine individuelle Figur zu designen«, knurre ich.
    »So’n Stuss!« Ilja macht eine wegwerfende Handbewegung. »Das kostet nix, du setzt dich einfach hin und zeichnest los, hab ich auch gemacht.«
    »Nur hab ich kein Händchen dafür.«
    Jetzt verschließe auch ich meinen Spind. Warum, ist mir schleierhaft, der Avatar ist schließlich echt nichts wert, sondern eben nur das Modell »freundlicher Arbeiter« der Standardausstattung.
    Was natürlich die Frage aufwirft, ob es irgendwo in Deeptown Bedarf an unfreundlichen Arbeitskräften gibt …
    »Soll ich dir einen zeichnen?«, bietet Ilja an und ist gleich Feuer und Flamme. »Das mach ich mit links. Und danach wirst du auf alle Fälle besser aussehen, das garantier ich dir.«
    »Okay, aber nicht jetzt«, erwidere ich. Ich glaube, das Gespräch hatten wir schon mal. Und sein Angebot ist genauso wie meine Bereitschaft, es zu akzeptieren, nicht mehr als eine Floskel. Ein Austausch von banalen Freundlichkeiten.
    »Also dann, tschüs.« Ilja winkt mir zu und verdrückt sich, ganz wie ein richtiger kleiner Junge. Die Bewegungsmodulation der Figur ist wirklich nicht schlecht.
    Was ich von meinem Avatar nicht gerade behaupten kann. Ich bewege mich plump wie ein dressierter Gorilla. Am Ausgang ist ein Schalter, an dem die Aufträge vergeben werden. Ilja hat sich seinen Posten bereits geschnappt und ist mit ihm auf und davon. Den Briefträgern steht ein Fahrrad zu.
    Mir nicht. Die Frachtkuriere kriegen bloß einen Motorroller.
    Aber erst mal muss ich mir die Aufträge abholen.
    Am Schalter sitzt Tanja und langweilt sich. Sie ist eine nette Frau – falls sie eine Frau ist.
    »Du bist spät dran«, hält sie fest, wenn auch nicht wütend, denn eigentlich ist ihr das völlig egal. »Es gibt zwei Aufträge. Wer ist noch in der Umkleide?«
    »Niemand, glaube
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