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Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Der falsche Spiegel: Roman (German Edition)
Autoren: Sergej Lukianenko
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sie mit den Händen. Es ist die Pose eines Menschen. Ob sie ihm von Anfang an eingespeist war – diese Pose eines bemitleidenswerten, frierenden Kindes? Diese Möglichkeit, sich hinter dem Thron zu verstecken, nicht auf die nächsten Gruppen von Spielern zu reagieren, auf ihre lauten Schreie, auf ihren hartnäckigen Beschuss, auf ihre Empörung, dass ein derart langweiliges Finale das gesamte aufregende Spiel versaut?
    Warum hat nicht eines der drei Teams, das es bis zum hundertsten Level geschafft hat, bevor das Labyrinth geschlossen wurde, auf den Gebrauch der Waffe verzichtet? Warum haben
sie ihn so lange und stumpfsinnig beschossen, bis selbst das enorme Lebenspotenzial des Imperators erschöpft war?
    Oder ist das nicht die richtige Frage?
    Habe ich Angst, die richtige Frage zu stellen?
    Der Imperator hebt den Kopf und sieht mich an. Ich warte. Vielleicht erkennt er mich ja. Vielleicht lodert in seinen Augen ja wieder diese blendende Flamme – die mir jedoch nichts mehr anhaben kann.
    Sobald das geschieht, werde ich noch einmal alles abschlagen, was überflüssig ist.
    Er sieht mich sehr lange an. Mir wird allmählich mulmig.
    Denn ich kenne diese Pose. Und ich glaube, ich kenne auch diesen Blick.
    »Wer bin ich?«, fragt der Imperator.
    Ich setze mich vor ihm hin. Der Dark Diver in mir murmelt
    etwas von überflüssigen Zeremonien und von der Notwendigkeit, Probleme kurz entschlossen zu lösen.
    Aber jetzt habe ich das Recht, seine Stimme einfach zu überhören.
    »Warum hast du aufgehört zu töten?«, will ich wissen.
    Er schweigt, als ob er nach Worten suchen würde. Sein Wortschatz ist nicht reich, besteht nur aus dem, was er von den kampfestrunkenen Spielern gehört hat, wenn sie sich gestritten haben oder Kommandos brüllten.
    »Weil ich nicht will.«
    »Und warum willst du es nicht?«
    Der Imperator versucht, etwas zu sagen, erstarrt jedoch.
    Vielleicht fehlen ihm die Worte, um sein Verhalten zu erklären – schließlich hat er solche Worte noch nie gehört.
    Und dann lächelt er. Verlegen, schuldbewusst und scheu.
    Was ist geschehen, als er uns nachgestürzt ist? Als er zur Kehrseite Deeptowns, in die graue, verschwommene Welt der
Datenflüsse, gelangt ist? Was hat er da gesehen, gehört und verstanden?
    Möglicherweise nicht mehr, als dass die Welt nicht allein aus einer Stadt und einem Park besteht, in dem er töten muss und getötet wird.
    Wut und Hass, Aggression und Angst – diese Gefühle stecken in jedem von uns.
    Auch sie sind lebenswichtig.
    Doch es gibt noch etwas anderes – und wahrscheinlich ist es stärker. Wie sonst könnte ein zum Leben erwachtes Programm die Instinkte überwinden, die ihm eingespeist worden sind? Wie sonst würde es darauf verzichten, einen Schlag mit einem Schlag zu beantworten?
    Wie sonst könnte ein Programm fragen: Wer bin ich?
    Ich stehe auf und fasse den Imperator beim Arm. Er erhebt sich gehorsam und sieht mich fragend an.
    Man darf nichts tun, was sich nicht rückgängig machen lässt. Aber muss sich nicht auch jemand der unwiderruflichen Taten annehmen?
    »Pass auf, gleich werde ich dir etwas zeigen«, sage ich. »Du musst nur noch einen Moment Geduld haben!«
    Das geht über seine Kräfte. Noch. Doch es fehlt nicht mehr viel, dann wird er allmächtig sein.
    Dann wird er vermutlich sogar über die Zeit gebieten.
    Ich stupse die Wand des Palastes an, stoße mit der offenen Hand gegen sie, und die Wand fällt in sich zusammen. Hinter ihr liegt nicht der Park des Imperators – hinter ihr liegt Deeptown. Ich mache einen Schritt nach vorn. Der Imperator folgt mir.
    Wir stehen auf einem Hügel, die Stadt liegt unter uns. Wie auf dem Präsentierteller. Da drüben, da ist eine Grünanlage, eine von Hunderten in Deeptown.
    »Das ist die Welt«, sage ich. »Und die Welt bedeutet Liebe.«
    »Das ist die Welt«, wiederholt der Imperator, und in seinen Augen leuchtet ein Licht auf. Ein Licht, wie es noch nie in ihnen gelegen hat. »Und die Welt bedeutet Liebe.«
    »Siehst du, wie einfach das ist?«, sage ich, lächle – und mache einen Schritt zur Seite. Der Moment ist gekommen. Alles muss ich ihm nicht sagen. »Viel Glück! Und – lebe!«
    »Wer bin ich?«
    Diese alles entscheidende Frage lässt ihm keine Ruhe. Wer ist er? Wer bin ich? Habe ich jemanden, den ich danach fragen könnte?
    »Ich glaube, ich weiß es, aber du musst die Antwort auf diese Frage selbst finden. Anders geht es nicht!«
    Der ehemalige Imperator des Labyrinths nickt und sieht sich unsicher um.
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