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Der Erl�ser

Titel: Der Erl�ser
Autoren: Jo Nesb�
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die Augen und hielt den Atem an. Aber sein Herz schlug. Er hatte irgendwo gelesen, dass es Raubtiere gab, die das ängstliche Herzklopfen ihrer Opfer hören konnten und sie dadurch fanden. Abgesehen von seinem Herzklopfen war die Stille total. Er kniff die Augen zusammen und dachte, dass er, wenn er sich nur richtig konzentrierte, den kalten, klaren Sternenhimmel auch durch das Dach hindurch sehen konnte, die sichere Bahn und Logik der unsichtbaren Planeten, den Sinn des Ganzen.
    Dann kam das unvermeidbare Krachen.
    Jon spürte den Luftzug im Gesicht und dachte einen Moment lang, das sei schon der Schuss gewesen. Vorsichtig öffnete er die Augen. Wo vorher das Schloss gewesen war, ragten jetzt Splitter aus dem Holz, die Tür hing schief in den Angeln.
    Der Mantel des Mannes vor ihm war geöffnet. Darunter trug er eine schwarze Smokingjacke und ein Hemd, das ebenso blendend weiß war wie die Wände hinter ihm. Um den Hals trug er einen roten Seidenschal.
    Als wäre er für ein Fest gekleidet, dachte Jon.
     
    Er sog den Duft von Urin und Freiheit ein, während er die zusammengesunkene Gestalt vor sich betrachtete. Ein schlaksiger, um sein Leben bangender Junge, der zitternd auf den Tod wartete. Unter anderen Umständen hätte er sich gefragt, was der junge Mann mit dem verschleierten, blauen Blick getan haben mochte. Doch dieses Mal wusste er es. Und zum ersten Mal seit der Hinrichtung von Giorgis Vater beim Weihnachtsessen in Dalj würde es ihm eine persönliche Genugtuung sein. Und er hatte keine Angst mehr.
    Ohne den Revolver zu senken, blickte er kurz auf die Uhr. Noch fünfunddreißig Minuten bis zu seinem Flug. Draußen hatte er die Überwachungskamera bemerkt. Was wohl bedeutete, dass auch im Parkhaus Kameras montiert waren. Er musste es hier drinnen erledigen. Ihn von diesem Klo holen, in die Nachbarkabine bugsieren, ihn dort erschießen, von innen abschließen und dann selbst nach draußen klettern. Sie würden Jon Karlsen erst finden, wenn der Flughafen nachts geschlossen wurde.
    »Get out!« , rief er.
    Jon Karlsen schien wie in Trance und rührte sich nicht. Er spannte den Hahn und streckte die Waffe vor. Da trat Jon langsam aus der Kabine. Blieb stehen. Machte den Mund auf.
    »Polizei. Waffe runter!«
     
    Harry hielt den Revolver mit beiden Händen und zielte auf den Rücken des Mannes mit dem roten Seidenschal, während die Tür hinter ihm metallisch klickend ins Schloss fiel.
    Statt den Revolver auf den Boden zu legen, hielt er die Mündung noch immer an Jon Karlsens Kopf und sagte in einem Englisch, das Harry bekannt vorkam:
    » Hello, Harry . Hast du eine freie Schussbahn?«
    »Perfekt«, sagte Harry. »Direkt durch Ihren Hinterkopf. Waffe runter, habe ich gesagt.«
    »Woher soll ich wissen, dass Sie wirklich eine Waffe haben, Harry? Schließlich habe ich Ihren Revolver.«
    »Ich habe einen, der einem Kollegen gehört hat. « Harry sah, wie sich sein eigener Finger um den Abzug krümmte. »Jack Halvorsen. Der, den Sie auf der Gøteborggata niedergestochen haben.«
    Harry sah, wie der Mann vor ihm erstarrte.
    »Jack Halvorsen«, wiederholte Stankic. »Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich das war?«
    »Ihre DNA in dem Erbrochenen. Ihr Blut auf seinem Mantel. Und der Zeuge, der vor Ihnen steht.«
    Stankic nickte langsam. »Verstehe. Ich habe Ihren Kollegen getötet. Aber wenn Sie das wirklich glauben – warum haben Sie mich dann noch nicht erschossen?«
    »Weil es einen Unterschied gibt zwischen Ihnen und mir«, sagte Harry. »Ich bin kein Mörder, sondern Polizist. Deshalb werde ich Ihnen, wenn Sie jetzt Ihre Waffe hinlegen, auch nur Ihr halbes Leben nehmen. Ungefähr zwanzig Jahre. Ihre Entscheidung, Stankic. « Harrys Armmuskeln hatten bereits zu schmerzen begonnen.
    »Tell him!«
    Jons Adamsapfel hüpfte auf und ab wie der Schwimmer an einer Angel. Dann schüttelte er den Kopf.
    »Jon? «, fragte Harry.
    »Ich kann nicht «»Er wird Sie erschießen, Jon, los. Reden Sie. «
    »Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen! Was soll ich «
    »Hören Sie zu, Jon«, sagte Harry, ohne den Blick von Stankic zu nehmen. »Wenn man eine Pistole auf Sie richtet, kann nichts von dem, was Sie sagen, in einem Prozess gegen Sie verwendet werden. Verstehen Sie? Im Moment haben Sie wirklich nichts zu verlieren.«
    Die harten, glatten Flächen des Raumes warfen die Geräusche unnatürlich kalt und laut zurück, als der Mann im Smoking den Hahn spannte und sich die Metallteile und Federn klickend aneinander
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