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Der eine Kuss von dir

Der eine Kuss von dir

Titel: Der eine Kuss von dir
Autoren: Patrycja Spychalski
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Kamera zu und verschwindet hinter ihr, dann wird das Display schwarz.
    Ich halte inne, versuche auf die Gefühle zu hören, die in mir toben, kann nur ein riesiges Wirrwarr ausmachen und spule das Band wieder zurück an den Anfang seines Monologs. Das mache ich fünf Mal, um mir jede Gesichtsregung von ihm einzuprägen, jede Änderung des Tonfalls, jedes Lächeln. Wie er sich die Haare aus der Stirn pustet und wie er die Augen zusammenkneift, wie er an seinem Pulli zupft und an seinem Band spielt, das Band, das er mir geschenkt hat und das Linda mir weggenommen hat. Einmal kann ich nicht widerstehen und streiche mit meinem Finger über das Display, dort, wo sein Gesicht ist.
    Ich merke gar nicht, wie es draußen Abend wird, plötzlich ist die einzige Lichtquelle das Flackern der Kamera. An Schlaf ist jetzt nicht zu denken. Bis Samstag sind es noch zwei Tage. Wie soll ich das bloß aushalten? Ich werfe mich aufs Bett, wälze mich hin und her, springe wieder auf und trete ans Fenster, möchte rausgehen, weiß aber nicht wohin.
    Ich schlurfe in die Küche, bleibe ewig vor dem offenen Kühlschrank stehen und schließe ihn dann wieder, ohne etwas rauszunehmen. Essen ist doch so was Profanes! Musik kann ich nicht hören, es gibt auf einmal keine Musik, die passt. Vielleicht kann ich Maja anrufen, um ihr zu sagen, dass man das mit dem Verliebtsein auf jeden Fall riskieren sollte. Und dann kann ich ihr noch sagen, dass sie sich geirrt hat, dass Milo überhaupt nicht zu krass für mich ist. Ich lasse zwei Mal klingeln, dann lege ich auf. Meine Mutter fragt mich etwas, ich nicke, das scheint zu genügen. Ruhelos streife ich in meinem Zimmer herum, fange an, Bücher der Größe nach zu ordnen und meine Klamotten nach Farben zu sortieren. Zwischendurch lege ich mich probehalber ins Bett, um zu testen, ob ich endlich einschlafen kann. Ich höre meine Eltern im Bad, wie sie sich zum Schlafen fertig machen. Ich setze mich aufs Bett, lasse die Beine baumeln und wippe mit dem Oberkörper vor und zurück wie so eine Geistesgestörte. Mann, Frieda, komm mal klar!

ZWEI TAGE SIND entsetzlich lang. Am nächsten Morgen habe ich jedoch den genialen Einfall, den Tourfilm zu schneiden. Das wird mir zumindest helfen, die Zeit zu vertreiben. Ich kopiere jede einzelne Kassette auf den Rechner und sichte dabei noch mal alle Aufnahmen. Einige sind richtig gut, die Konzertaufnahme mit Stativ zum Beispiel, und auch die Interviews sind größtenteils gelungen, am besten gefällt mir das mit Robert. Das mit Milo ist mir fast schon etwas zu intim, aber wahrscheinlich nur, weil ich weiß, was danach folgte.
    Milos letzten Monolog klammere ich natürlich aus, kopiere ihn aber trotzdem auf den Rechner.
    Das restliche Material speise ich ins Filmschnittprogramm ein. Dauert alles sehr lange, aber es ist ja auch Sinn der Sache, der Zeit ein Schnippchen schlagen.
    Mama kommt rein und fragt, ob ich was zu Mittag essen will. Schon Mittag? Großartig!
    »Ich hole mir gleich was, ich muss das hier noch fertig machen.«
    Mama stellt sich hinter mich und sieht mir einen Moment über die Schulter, wie ich überflüssige Szenen rausschneide. »Du machst diesmal wirklich ernst, oder?«
    Ich nicke. Mein Ehrgeiz ist, Milo am Samstag den fertig geschnittenen Film mitzubringen.
    Ich probiere ein paar Effekte aus. Die soll man ja sparsam einsetzen, aber es gibt da diesen schönen Oldschool-Modus, der die Bilder aussehen lässt, als wären sie mit Super 8 aufgenommen. Das passt sehr gut zu den BlackBirds. Jetzt, da der Film langsam Form annimmt, bin ich sehr gerührt über diese Zeit, die ich mit der Band verbringen durfte. Jeder Tag war anders, manchmal gut, manchmal schlecht, aber immer aufregend und ungewöhnlich. Wenn die Band sich tatsächlich auflösen sollte, dann wird dieser Film trotzdem das Dokument einer großartige Zeit sein. Ich kann immer noch nicht glauben, dass Milo diese Film-Nummer eingefädelt hat, um mich kennenzulernen. Das hätte er auch einfacher haben können.
    Mein Magen knurrt und zwingt mich, meine Arbeit wenigstens kurz zu unterbrechen, um die Nudeln von heute Mittag warm zu machen. Mama und Papa sind mit den Fahrrädern weggefahren. Die Stille in der Wohnung kommt mir unnatürlich vor, also lege ich eine Deep-Purple- CD in Papas Anlage und drehe mich im Wohnzimmer zur Musik, mit dem Nudelteller in der Hand. Als das Lied vorbei ist, drücke ich auf Repeat und rechne im Kopf aus, wie oft ich das Lied hintereinander hören müsste, damit endlich
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