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Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)

Titel: Der Eindringling: Roman (edition suhrkamp) (German Edition)
Autoren: Raul Zelik
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auf einmal ungewohnt traurig aus; traurig, weil er an den Freund denkt, der im Krankenhaus im Koma liegt, vielleicht nie wieder aufwachen wird, traurig vielleicht auch wegen der zerbrochenen Freundschaften, und Daniel presst sich die Hände an die Schläfen, als drohe ihm der Kopf zu zerplatzen, er hat die Nacht über kaum geschlafen, stundenlang die Bilder im Kopf gehabt – Fil und Demiana, der Vater und die Frau, ihre Körper nackt –, jetzt ist er erschöpft, erleichtert, aber auch sehr peinlich berührt; weiß nicht, was er davon halten soll, dass Dem nicht die Frau war, mit der der Vater etwas hatte, dass sich Daniel genau das vorgestellt hat, sich in diese Geschichte so hineinsteigern konnte, fragt sich, was das bedeutet, über sein Verhältnis zum Vater aussagt, und warum Dem sonst davongerannt sein könnte, ohne etwas zu erklären, um diese Uhrzeit vor zwei Tagen, es kommt ihm wie eine Ewigkeit vor.
    Wenn es der Vater nicht war, denkt er, wenn sie mich nicht als Fils Sohn erkannt hat, was war es dann? Was habe ich dann falsch gemacht, was habe ich getan, dass sie davonlaufen musste? Und wieder fühlt sich sein Kopf an, als wolle er zerplatzen, als sei das alles zu viel.

XI
    Temperaturen um den Gefrierpunkt, Wolken wie nasse Watte, ein lichtundurchlässiger Schleier über der Stadt, die Wiesen, morgens, reifüberzogen. Die Parkanlagen sehen wie gezuckert aus, gefrorene Hundehaufen stemmen sich gegen die Schwerkraft, kleine Statuen, auch sie puderweiß. Man trägt Jacken oder Mäntel, duckt sich hinter Kragen, legt Spuren aus kondensierendem Atem, schiebt die Hände tief in die Taschen, friert oder fröstelt, der Sommer ist nur noch eine blasse Erinnerung.
    Der kurze Sommer.
 
    Warum ist sie abgehauen? denkt Daniel, während er am Kanal entlangstreift, den nun auch mittags nur noch in opakes Licht getauchten Kanal, an dem schon lange nichts mehr an den Sommer erinnert, den kurzen Sommer, warum hat sie nichts erklärt?, war an diesem Morgen plötzlich einfach weg, ist nicht mehr ans Telefon gegangen, hat nicht mehr im Kiosk gearbeitet, in der Wohnung der Tante geschlafen? Die ihm am Kanal entgegenkommenden Passanten nimmt Daniel kaum wahr, Passanten, die ihre Hunde hinter sich herzerren, als wären sie ihrer längst überdrüssig, als würden sie die Haustiere schon lange nicht mehr ertragen, die ihre Schnauzen in Müllhaufen, Pissflecken steckenden Köter, denkt stattdessen an das Ende des Sommers – wie er gewartet hat, nach der Unterhaltung mit Beule gerätselt hat, was mit Dem geschehen sein könnte, er noch zweimal zumKiosk, sicher ein Dutzend Mal zur Wohnung der Tante fuhr, mit der Leiharbeitsfirma telefonierte, um die Nummer der Tante zu erfragen, bis er nach fünf Tagen endlich eine Mail bekam, eine Mail von Dem. Sie sei im Süden, schrieb sie, endlich auf der anderen Seite des Meeres, ihr Handy kaputtgegangen, danach habe sie ein paar Tage lang keinen Internetzugang gehabt, das tue ihr leid, aber sie habe nicht mit ihm darüber diskutieren wollen, er habe den Eindruck gemacht, als erwarte er mehr, und sie habe einfach mal wieder das Weite suchen müssen, er wisse ja, der Berg ruft , darüber habe sie nicht mit ihm reden wollen, sie habe vorgehabt, ihm von unterwegs Bescheid zu geben, noch am ersten Tag, aber dann sei ihr das Handy ins Wasser gefallen, und die beiden Male, als sie von einer Zelle aus anrief, sei bei ihm besetzt gewesen. Sie habe gedacht, er habe wahrscheinlich sowieso kein gesteigertes Interesse mehr an einem Telefonat, habe sich zugegebenermaßen auch ein bisschen vor der Unterhaltung gedrückt, sorry, er müsse das verstehen, manchmal sei sie so, habe den Reflex wegzulaufen, das habe mit ihrer Familie zu tun.
    Daniel wusste nicht, ob er ihr glauben sollte – die Geschichte mit dem Handy, die Ausrede mit der besetzten Leitung –, war wütend, aber trotzdem auch ein bisschen erleichtert, weil ihr nichts passiert war, sie nicht tot, sondern verreist, nicht die ehemalige Geliebte des Vaters, sondern einfach unverbindlich gewesen war; unverbindlich wie alle.
    Danach wurde es Herbst, innerhalb weniger Tage, erinnert er sich und presst sich in die Jacke, flieht vor der Kälte hinter den Kragen, blickt den Kötern hinterher, die an ihren Besitzern zerren, als wollten sie von ihnen weg, als seien sie ihre Besitzer längst leid. Ich war erschöpft, denkt er, abervorzuwerfen hatte ich mir nichts, ich war durch den Vater hindurchgegangen, hatte ihn unwissentlich, unwollentlich
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