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Der dunkle Spiegel

Titel: Der dunkle Spiegel
Autoren: Andrea Schacht
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öffentlich die Kunst des Zahnreißens. Für diejenigen, die des Lesens nicht kundig waren, boten sprechende Bilder von blutigen Zähnen und dem vielfältigen Werkzeug einen Überblick über das Angebot der medizinischen Dienstleistungen. Das alleine hätte natürlich noch nicht gereicht, den Menschenauflauf zu erklären, der sich gebildet hatte und durch den sich Trine jetzt drängte. Ein Patient hatte sich gefunden! Ein korpulenter Herr mit einer dicken Backe saß auf einem Hocker und wurde von zwei Gehilfen festgehalten, während der Zahnbrecher seiner Arbeit nachging. Trine war ganz Augen, und Almut, die voller Mitleid an Elsa dachte, meinte fast selbst den heftigen Schlag mit dem Stoßeisen und die reißende Zange an ihrem Backenzahn zu spüren. Leise dankte sie der heiligen Apollonia, der Märtyrerin, die man bei Zahnschmerzen anrief, dass sie selbst bis jetzt ausgesprochen gesunde Zähne hatte.
    Ein Schmerzensgebrüll ließ die Menge zusammenfahren, und triumphierend hielt der Zahnbrecher den gezogenen Zahn in die Höhe. Der Patient spuckte Blut und Eiter aus und musste sich den Mund unter fürchterlichen Grimassen mit einer scharfen Flüssigkeit ausspülen.
    »Genug Aufregung für heute, Trine!«
    Energisch nahm Almut das Mädchen am Arm und bugsierte sie aus der Menschentraube.
    Die beiden erreichten den Konvent ohne weitere Zwischenfälle. Er lag zwar ein wenig außerhalb der eigentlichen Stadt, aber noch innerhalb der Stadtmauern und nicht weit von einem der wichtigsten Tore, dem Eigelstein-Tor, entfernt. Am Anfang des Jahrhunderts, vor etwa siebzig Jahren, hatte ein reicher Patrizier, einer der Vorfahren der derzeitigen Meisterin Magda von Stave, für sechs ledige Frauen ein großes Haus inmitten der Weingärten gestiftet. Ein Anbau und drei weitere kleine mit Schieferleyen bedeckte Fachwerkhäuschen waren im Laufe der Zeit hinzugekommen und bildeten jetzt auf dem fast quadratischen Grundstück einen abgeschlossenen Hof. Die Häuser verdankten ihr Dasein einer vermögenden Begine, die sie vor Jahren dort für sich und ihre Schwestern hatte errichten lassen. Im Haupthaus befand sich nun das Refektorium, der Raum, in dem sich die Beginen zu den Mahlzeiten, aber auch zu gemeinsamen Arbeiten oder Gesprächen versammelten. In seinem Anbau, vor dem sich auch der Brunnen befand, hatte die Köchin ihr Reich. Umgeben war das Ganze von einer übermannshohen Mauer, die die Bewohnerinnen vor neugierigen Blicken und ungeladenen Gästen schützte. Der Eingang lag direkt neben einem der kleinen Häuser. Eine starke Holztür verschloss ihn gewöhnlich, und wer klopfte, musste sich zunächst dem prüfenden Blick der Pförtnerin stellen, die durch eine Luke nach dem Begehr fragte.
    Almut hatte nach ihrem Gang durch die Stadt zunächst ihre Kammer aufgesucht, um sich den Staub von Gesicht und Händen zu waschen und das Gebände zu richten. Kurz sah sie noch einmal aus dem Fenster und ließ den Blick über die Felder streifen. Das Häuschen, in dem sie wohnte, grenzte an das freie Land, nicht an die Straße. Sie freute sich an dem Ausblick, auch wenn ihr damit verwehrt war, das Treiben im Hof zu beobachten. Doch viel Zeit zu derartigem Müßiggang fand sie ohnehin nicht. Auch jetzt hatte sie eine Aufgabe zu erledigen.
    »In der Stadt ist ein Zahnbrecher, Elsa!«
    Das linke Auge der Apothekerin war wegen der dicken, geröteten Wange inzwischen beinahe zugeschwollen, was sie aber nicht daran hinderte, unwillig zu knurren.
    »Aber du solltest wirklich etwas unternehmen. Du weißt doch, so etwas geht nicht von selbst weg.«
    Ein bisschen amüsiert betrachtete Almut die rundliche Apothekerin, die gewöhnlich für jedes Wehwehchen ihrer Mitschwestern eine Therapie zur Hand hatte. Vieles von dem, was sie verordnete, war zwar wirkungsvoll, aber in seiner Anwendung oder im Geschmack entsetzlich. Sie selbst unterzog sich daher nur höchst unwillig irgendwelchen Behandlungen und hatte eine geradezu panische Angst vor schmerzhaften Eingriffen.
    »Hast du denn nichts bei deinen Mitteln, das dir helfen könnte?«
    Nochmaliges Knurren war die Antwort.
    »Traust du etwa deinen eigenen Arzneien nicht?«
    »Almut, du gehst mir auf die Nerven.«
    Almut indessen schaute sich in dem Raum um, in dem die Apothekerin ihre Arbeit verrichtete. Getrocknete Kräuter hingen in Büscheln von den Balken, in fest verschlossenen Töpfen lagerten wunderliche Ingredienzien wie getrocknete Fledermausohren, Alraunwurzeln, Olivenöl, Schwefelblüte,
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