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Der Duft

Titel: Der Duft
Autoren: Aufbau
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fertig geworden.
    Harrisburg schloss die Augen. Er versenkte sich einen Moment in sich selbst, blendete die Geräusche der Stadt aus, den Geruch
     des Todes, der immer noch über diesem Raum lag. Stattdessen hörte er die Schreie der Kinder, sah, wie sie in Panik durcheinander
     liefen, sich unter den niedrigen Holztischen zu verstecken versuchten, wie sie sich |41| weinend zusammenkauerten und nach ihren Müttern riefen. Er sah in die entsetzten Augen der Lehrerin, die später in der Ecke
     des Raums gefunden worden war, durchsiebt von vierzehn Kugeln aus amerikanischen Schnellfeuerwaffen.
    Er sah den Raum aus der Sicht der Soldaten, die hier eingedrungen waren. Es mochte sein, dass sie geglaubt hatten, einen Terroristen
     zu verfolgen. Aber es war unmöglich, dass sie nicht gewusst hatten, was sie taten, als sie das Feuer eröffneten.
    Vierzehn Kinder, zwischen acht und zehn Jahren alt, und die Lehrerin waren gestorben. Nur drei Schüler, die durch die gegenüberliegende
     Tür aus dem Raum geflohen waren, hatten überlebt, einer davon mit einer Kugel im Rücken.
    Was hier geschehen war, blieb einfach unfassbar. Unvorstellbar. Unmöglich.
    »Hören Sie, wir sollten uns hier nicht so lange aufhalten«, sagte der Sergeant. »Sie wissen, die Bevölkerung ist noch immer
     aufgebracht. Das Gebäude ist gesichert, aber …«
    Aufgebracht? Was für ein seltsames Wort. Der Vorfall war wie eine Schockwelle durch Bagdad gelaufen, durch das ganze Land
     und weit darüber hinaus. Amerikaner hatten unschuldige Kinder niedergemetzelt! Die Informationsabteilung des Pentagon hatte
     alles getan, um es so darzustellen, als hätten Islamisten die Kinder als Schutzschild benutzt. Dennoch hatte es überall auf
     der Welt tagelange Massendemonstrationen gegen die US-Truppen gegeben. Ein Autobombenanschlag, bei dem eine Militärstreife
     verletzt wurde, war von der Bevölkerung bejubelt worden. Die irakische Regierung hatte eine offizielle Protestnote verfasst.
    Teile der arabischen Welt waren in Aufruhr. All die Aufbauarbeit der letzten Jahre, das mühsam erarbeitete Vertrauen der Menschen
     waren in Sekunden zerstört worden.
    |42| Dass drei der vier an dem Vorfall beteiligten Soldaten ebenfalls in diesem Raum gestorben waren, getötet von ihren eigenen
     Kameraden, milderte den Zorn der Massen kein bisschen. Und doch war gerade das für Harrisburg das größte Rätsel – und der
     Grund, warum man ihn, einen Offizier der Abteilung für psychologische Aufklärung, zur Untersuchung des Vorfalls hierher geschickt
     hatte.
    Dies war kein gewöhnlicher Fall eines Übergriffs von Soldaten auf die Zivilbevölkerung, wie er in jeder Besatzungsarmee immer
     wieder vorkam. Harrisburg wusste, dass der Stress permanenter Todesangst Menschen zu Gewaltexzessen treiben konnte. Angst
     war ein noch grausameres Motiv als Rache. Aber ein solches Blutbad gegen unschuldige, unbewaffnete Kinder war beispiellos.
     Und warum hatten sich die Soldaten gegenseitig attackiert?
    Man hätte es vielleicht noch erklären können, wenn einer der Soldaten durchgedreht und dann von seinen Kameraden getötet worden
     wäre. Doch die Untersuchung der Waffen und Kugeln hatte eindeutig ergeben, dass alle vier Waffen des Trupps leer gefeuert
     worden waren, und zwar anscheinend wahllos sowohl auf die Kinder als auch auf die eigenen Kameraden. Einen solchen Vorfall
     hatte es in der Geschichte des US-Militärs noch nicht gegeben.
    »Können wir jetzt bitte endlich gehen?«
    Harrisburg betrachtete den Sergeant, Afroamerikaner wie er selbst, mit dünnem Oberlippenbart und Tapferkeitsabzeichen auf
     der Uniform. Der Mann hatte keine Angst vor den Iraki. Er fürchtete sich vor dem, was hier geschehen war.
    Harrisburg nickte stumm und folgte ihm zurück zu dem gepanzerten Militärfahrzeug, das auf dem Schulhof wartete.
    »Was ist Ihre Meinung, Sir?«, fragte der Sergeant, als sie durch die Straßen Bagdads zurück zum Hauptquartier rollten.
    |43| Harrisburg schwieg.
    »Sir?«
    Wie die meisten Menschen war der Sergeant zu ungeduldig, um auf eine wohlüberlegte Antwort zu warten. Die Leute, mit denen
     Harrisburg zu tun hatte, hielten ihn anfangs für zu dumm, um schnell zu antworten. Später dann, nachdem sie ihn etwas näher
     kennengelernt hatten, glaubten sie, er sei einfach unhöflich. Nur wenige kannten ihn gut genug, um zu wissen, dass er niemals
     eine Antwort gab, ohne ihr die Zeit zur Reife zu geben.
    »Etwas sehr Ungewöhnliches ist hier vorgefallen«, sagte er, als
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