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Der Dschungel

Der Dschungel

Titel: Der Dschungel
Autoren: Upton Sinclair
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der Welt zu sehen, den wahren Begründer der sozialistischen Bewegung, einen Mann, dessen ganzes Sein eine einzige Flamme des Hasses war gegen den Reichtum und alles, was vom Reichtum kommt – seine Hoffart, seine Verschwendungssucht, seine Tyrannei –, der selber ein Bettler und Landstreicher war, ein Mann des Volkes, der Gefährte von Kneipenwirten und Freudenmädchen, der immer wieder in deutlichsten Worten den Reichtum und den Besitz von Reichtümern gerügt hat: ›Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden!‹ – ›Verkaufet, was ihr habt, und gebt Almosen!‹ – ›Selig seid ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer!‹ – ›Aber dagegen weh euch Reichen, denn ihr habt euren Trost dahin!‹ – ›Wahrlich, ich sage euch: Ein Reicher wird schwer ins Himmelreich kommen!‹ Der unzählige Male die Ausbeuter seiner Zeit angeprangert hat: ›Weh euch Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler!‹ – ›Ihr Schlangen, ihr Otterngezüchte! Wie wollt ihr der höllischen Verdammnis entrinnen?‹ Der die Krämer und Wechsler mit der Geißel aus dem Tempel trieb! Der gekreuzigt worden ist – als Aufrührer und als Störer der gesellschaftlichen Ordnung! Und diesen Mann haben sie zum Hohenpriester des Eigentums und selbstgefälliger Respektierlichkeit gemacht, zur göttlichen Sanktion all der Greuel und Abscheulichkeiten der modernen Kommerz-Zivilisation! Man faßt sein Bild in Edelstein, wollüstige Priester brennen Weihrauch vor ihm ab, Industriepiraten bringen ihm ihre Dollars, für die sie wehrlose Frauen und Kinder geschunden haben, und bauen ihm Tempel, wo sie dann auf gepolsterten Bänken sitzen und seiner Lehre lauschen, die ihnen Doktoren einer verstaubten Theologie auslegen ...«
    »Bravo!« rief Schliemann lachend.
    Aber Lucas war jetzt in Fahrt – fünf Jahre lang schon sprach er Tag für Tag über dieses Thema und hatte sich dabei noch nie unterbrechen lassen. »Dieser Jesus von Nazareth!« fuhr er fort. »Dieser klassenbewußte Arbeiter! Dieser Zimmermannsgewerkschaftler! Dieser Agitator, Unruhestifter, Gesetzesbrecher, Anarchist! Er, der erhabene Herr und Meister einer Welt, in der Menschenleiber und Menschenseelen zu Dollars zermahlen werden – käme er heute wieder und sähe, wozu die Menschen seinen Namen mißbrauchen, würde ihm da nicht vor Entsetzen das Herz brechen? Würde er bei diesem Anblick nicht wahnsinnig werden, der Fürst der Gnade und Barmherzigkeit? In jener schrecklichen Nacht, als er im Garten Gethsemane lag und sich in Seelenqualen wand, bis ihm blutiger Schweiß ausbrach – glauben Sie, er sah da Schlimmeres, als er heute abend auf den Schlachtfeldern der Mandschurei sehen würde, wo Menschen sein juwelenbesetztes Bild vorantragen, wenn sie zum Massenmord ausrücken, damit es Ungeheuern an Wollust und Grausamkeit wohl ergehe? Meinen Sie nicht, daß er, wäre er jetzt in St. Petersburg, die Geißel nähme, mit der er damals die Wechsler aus dem Tempel trieb?«
    Da Lucas kurz innehielt, um Luft zu schöpfen, nutzte Schliemann die Gelegenheit, trocken zu sagen: »Nein, Genosse, das würde er anders machen, denn er war ein praktischer Mensch. Er nähme die hübschen kleinen imitierten Zitronen, wie man sie jetzt nach Rußland schmuggelt; die kann man bequem in die Tasche stecken, und sie enthalten genug Sprengstoff, einen ganzen Tempel in die Luft zu jagen.«
    Lucas wartete, bis die Gesellschaft aufgehört hatte, über diesen Einwurf zu lachen, und fuhr dann fort: »Aber betrachten Sie es doch einmal vom Standpunkt praktischer Politik aus, Genosse. Hier haben wir eine historische Gestalt, die von allen Menschen geliebt und verehrt, von manchen sogar für göttlich gehalten wird – und dieser Mann war einer von uns: Er lebte unser Leben, verkündete unsere Lehre. Sollen wir ihn da in den Händen seiner Feinde lassen, sollen wir tatenlos zusehen, wie sie sein Vorbild zuschanden machen und ins Gegenteil verkehren? Wir haben seine Worte, die niemand ableugnen kann – sollen wir darauf verzichten, sie den Leuten zu zitieren und ihnen zu beweisen, wie er wirklich war, was er lehrte und was er tat? Nein, nein und abermals nein! Wir müssen seine Autorität benutzen, um die Schurken und die Faulen aus seinem Dienst zu jagen, und so werden wir das Volk zur Tat aufrütteln!«
    Lucas machte abermals eine kleine Pause, und Schliemann streckte die Hand nach einer auf dem Tisch liegenden Zeitung aus. »Hier, Genosse«, sagte er lachend, »hier steht etwas, womit Sie anfangen
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