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Der dritte Berg

Der dritte Berg

Titel: Der dritte Berg
Autoren: J.F. Dam
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den endgültigen Beweis für den Zweitwohnsitz Maettgens. Leute wollen ihre Telefonnummer nicht jedem sagen, doch gibt es andere, die sie aller Welt verkünden. Sogleich rufe ich an.
    »Maettgen«, sagt eine tiefe Stimme. Sie klingt müde, sie klingt auch überrascht. Vielleicht überrascht darüber, auf eine unbekannte österreichische Nummer geantwortet zu haben.
    Ich zögere ein oder zwei Sekunden lang. In dieses Zögern hinein legt Maettgen auf. Ich rufe sogleich wieder an, Maettgen hebt aber nicht mehr ab. Auch beim dritten Versuch nicht. Jetzt habe ich aber ein festes Programm für den nächsten Tag.
    Ich verlasse das Hotel und nehme in einem Fischrestaurant ein Abendessen zu mir. Dann trotte ich hinunter zum Neckarufer, an eine einsame Stelle hinter der Kirche, und lasse mich dort in der Dunkelheit auf einem Steinpoller nieder. Da sind Fragen zu klären. Zum Beispiel, was zu tun ist, wenn ich Maettgen morgen in Schluchsee nicht mehr antreffe. Oder er mir die Tür vor der Nase zuschlägt.
    Ich sitze gerne allein in Dunkelheiten und starre in Nächte hinaus. Die Dunkelheit ist ein weites Feld. In der Dunkelheit werden die Gedanken lauter und klarer, man kann Dinge verstehen.

    »Prinz.« Maggie spricht laut aus der Küche ihrer Wohnung, die sie auch während ihrer sechsjährigen Höllenfahrt von Ehe nicht aufgegeben hat. Ich höre das Klackern von Eiswürfeln, dann eine Pause.
    »Zu Diensten.«
    »Du musst mir sagen, was du denkst.«
    »Worüber denn?«
    »Christian und mich.« Bei diesen Worten kommt Maggie mit zwei Gläsern durch die Tür. Sie sieht seltsam aus, hat das Haar zurückgebunden; vielleicht hat sie geweint. »Du bist doch mein Freund. Du weißt, was zu tun ist.«
    »Scheidung?«, sage ich.
    Maggie hebt ihr Glas ein paar Zoll und schließt die Augen. Maggie trug stets Kostümsets und im Sommer Seidenblusen, eine stolze Frau, die eine kleine Agentur für Schauspieler leitete, jetzt aber zittert sie und legt ihren Kopf kraftlos auf die Seite. »Auf alle Dinge, die enden.«
    Ich war wie überrumpelt von der Erkenntnis, dass jemand wie Maggie sich vor der Zukunft fürchtete.
    »Spring«, sage ich und nehme ihre Hand. »Ich werde dort sein, wo du mich haben willst.«

    Über dem träge schwebenden Fluss und den lichtlosen Hügeln des Neckartals liegt der Mond. Es gibt Leute, für die ist der Mond ein schönes, melancholisches Licht. An diesem Abend kann ich sie zum ersten Mal verstehen. Ich habe indisches Blut, wie habe ich sonst bloß einen vernarbten, im All kreisenden Felsbrocken sehen können …
    Chandra , der Leuchtende
    heißt der Mond in Indien, oder
    Indu , der helle Nektartropfen
    dann
    Nishākara , Erschaffer der Nacht
    Oshadhīsha , Herr der Kräuter
    Udupa , Hüter der Sterne
    oder auch
    Himānshu , der kühl Strahlende .

ALS TEENAGER HABE ICH eine Unmenge an Reportagen gesammelt, die allesamt beweisen sollten, dass Indien keine Weisheit, keinen Fortschritt, keine besonderen Menschen und ganz allgemein nichts von Interesse aufzuweisen hat, das über die Müllmenschen von Bombay oder die Kuhkadaver im Ganges hinausgeht. Und dazu hasste ich unsere Besuche in diesem ekligen Kalkutta, der Stadt meines Großvaters. Der einzigen indischen Stadt, die Maggie mochte. Niemals werde ich ganz dahinterkommen, warum.
    Heute hat die Familiengeschichte mich eingeholt. Heute verhindert Oberst Shivmangal Rai von der Indian National Army erfolgreich, dass ich mich irgendwo heimisch fühle. Nun sind Menschen keine Bäume, sie müssen keine Wurzeln schlagen, sie können ziellos umherschweifen und dennoch leben sie weiter. Österreich, dessen größter Vorzug gegenwärtig in seiner schadenlimitierenden Kleinheit besteht, ist ja bestimmt kein Ort für jemanden wie mich. Und manchmal frage ich mich, wie viel Heimat der Mensch denn benötigt. Dann glaube ich, er ist unglücklich ohne sie, doch ist ihm die Welt zugänglich, ihm, dem offenen, heimatlosen, melancholischen Geist. Mit unbestreitbarem genetischen Recht bin ich Mitglied der neuen Spezies: homo migrans migrans .
    Und wie alle Migranten bin ich ein Träumer. Ich lebe in Wien, doch spinne ich Träume von bengalischen Reisfeldern, wenn der erste Monsunwind in sie fährt, von den karstigen, roten Felslandschaften Südindiens in der Hitze des April, ich träume von der Präsenz , die man in diesem alten Indien spüren kann, in den Kühen, den steinigen Hügeln, der Morgensonne, als wäre dort alles durchtränkt mit Geist.

    Das Frühstück in Neckargemünd
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