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Der Doktor und das liebe Vieh

Der Doktor und das liebe Vieh

Titel: Der Doktor und das liebe Vieh
Autoren: James Herriot
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gesehen.
    »Guten Tag«, sagte ich mit meinem schönsten Lächeln. »Ich heiße Herriot.«
    In der offenen Tür wirkte die Frau noch gewaltiger. Sie mochte um die Sechzig sein, aber ihr straff zurückgekämmtes Haar war pechschwarz und hatte kaum graue Strähnen. Sie nickte und sah mich mit grimmigem Wohlwollen an, schien aber auf weitere Informationen zu warten. Offenbar löste der Name bei ihr keinen zündenden Funken aus.
    »Mr. Farnon erwartet mich. Er schrieb mir, ich solle heute kommen.«
    »Mr. Herriot?« wiederholte sie nachdenklich. »Sprechstunde ist von sechs bis sieben. Wenn Sie vielleicht einen Hund behandeln lassen wollen, wäre das die beste Zeit.«
    »Nein, nein«, sagte ich, noch immer lächelnd. »Ich bewerbe mich um den Posten eines Assistenten. Mr. Farnon hat mich zum Tee eingeladen.«
    »Assistent? Ach, das ist schön.« Ihre Gesichtszüge wurden etwas weicher. »Ich bin Mrs. Hall, Mr. Farnons Haushälterin. Er ist Junggeselle, wissen Sie. Er hat mir nichts von Ihnen gesagt, aber das macht nichts, kommen Sie herein und trinken Sie eine Tasse Tee. Er wird bald zurück sein.«
    Ich folgte ihr zwischen weißgekalkten Wänden, meine Füße klapperten auf den Fliesen. Wir bogen in einen zweiten Gang ein, und ich überlegte gerade, wie weit sich das Haus wohl nach hinten erstreckte, als ich in ein sonnenhelles Zimmer geführt wurde.
    Es war in großzügigem Stil angelegt, mit einer hohen Decke und einem gewaltigen Kamin, der von zwei gewölbten Nischen flankiert wurde. Die eine Seite des Raumes wurde von einem französischen Fenster eingenommen, das auf einen langen Garten mit hohen Mauern hinausging. Ich sah einen ungemähten Rasen, einen Steingarten und viele Obstbäume. Ein großes Beet mit Pfingstrosen leuchtete im Sonnenlicht, und weit hinten krächzten Saatkrähen in den Zweigen hoher Ulmen. Darüber und dahinter waren die grünen Hänge mit ihren Mauern.
    Auf einem stark abgenutzten Teppich standen ziemlich einfache Möbel. Drucke mit Jagdszenen hingen an den Wänden, und überall waren Bücher gestapelt, einige auf Regalen in den Nischen, andere auf dem Boden in den Ecken. Ein Zinnkrug nahm auf dem Kaminsims einen gewichtigen Platz ein. Es war ein interessanter Krug, vollgestopft mit Schecks und Banknoten, die oben herausquollen und zum Teil auf die Feuerstelle geflattert waren. Ich betrachtete erstaunt dieses Stilleben, als Mrs. Hall mit dem Tee hereinkam.
    »Ich vermute, Mr. Farnon ist zu einem kranken Tier gerufen worden«, sagte ich.
    »Nein, er ist nach Brawton gefahren und besucht seine Mutter. Ich kann nicht genau sagen, wann er zurück sein wird.« Sie ließ mich mit meinem Tee allein.
    Die Hunde lagen jetzt friedlich da, sahen mich gelangweilt an und kämpften vergebens gegen den Schlaf an. Bald sanken ihre Köpfe zurück, und tiefe Atemzüge füllten den Raum.
    Ich aber war außerstande, mich zu entspannen. Ein Gefühl der Verlassenheit überkam mich. Ich hatte mich auf eine wichtige Unterredung vorbereitet, und nun saß ich da, ohne daß etwas passierte. Seltsam, sehr seltsam. Warum bemühte sich jemand um einen Assistenten, machte einen Termin für ein Treffen aus und ging dann weg, um seine Mutter zu besuchen? Außerdem – falls Farnon mich anstellte, würde ich doch in diesem Haus leben, aber Mrs. Hall war nicht angewiesen worden, ein Zimmer für mich zurechtzumachen. Sie hatte noch nicht einmal von mir gehört.
    Meine Grübeleien wurden durch das Läuten der Türglocke unterbrochen. Als hätte ein glühender Draht sie berührt, sprangen die Hunde bellend auf und stürmten hinaus. Ich wünschte, sie hätten ihre Pflicht nicht so ernst genommen. Mrs. Hall war nirgends zu sehen, und daher ging ich zur Haustür, wo sich die Hunde wie wild gebärdeten.
    »Ruhig!« brüllte ich, und der Lärm hörte auf. Die fünf Hunde krochen devot um meine Füße, fast auf den Knien. Der große Windhund erzielte den meisten Effekt, indem er mit einem Grinsen der Entschuldigung seine Zähne entblößte.
    Ich öffnete die Tür und sah in ein rundes, besorgtes Gesicht. Sein Besitzer, ein feister Mann in Wellingtonstiefeln, lehnte vertrauensvoll am Geländer der Vortreppe.
    »Hallo, ist Mr. Farnon da?«
    »Im Moment nicht. Kann ich etwas für Sie tun?«
    »Ja, sagen Sie ihm, wenn er zurückkommt, daß Bert Shape von Barrow Hills eine Kuh hat, die ausgepustet werden muß.«
    »Ausgepustet?«
    »Genau. Sie läuft nur noch auf drei Zylindern.«
    »Drei Zylinder?«
    »Ja, und wenn wir nichts tun, passiert
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