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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Autoren: Bastian Sick
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nur das Türkische dem »Ü« einen besonderen Stellenwert beimisst, und habe mich auf die Suche nach deutschen Wörtern begeben, die mindestens zwei »Üs« enthalten. Einmal damit angefangen, ließ mir die Ü-Suche keine Ruhe mehr. Nachts lag ich wach und grübelte bis in die Früh über Wörter mit zwüfachem »Ü«. Am Morgen hatte ich die folgenden zusammengetragen:
    Türdrücker, Südfrüchte, Geflügelwürste, Glückwünsche, Lückenbüßer, Rührschüssel, Brühwürfel, Glühwürmchen, Rückenbürste und – quasi als Tüpfelchen auf dem Ü – Stützstrümpfe und Bürzeldrüse. Nicht zu vergessen Büchners Bühnenstücke, schwüle Frühlingsgefühle, günstige Frühflüge und überfüllte IC-Züge. Dort, wo ich herkomme, gibt es außerdem jede Menge »Kürchtürme«.
    Danach begann ich, ganze Sätze mit Ü-Wörtern zu bilden. Dieses übermütige Vergnügen kostete mich eine weitere schlaflose Nacht. Aber es hat sich gelohnt. Als draußen schon die Vögel zu zwütschern begannen, hatte sich das Blatt Papier mit folgenden Sätzen gefüllt:

    Schließlich verstieg ich mich zu mystischer Lyrik:

    Wer da glaubte, ich wäre dieses Spielchens irgendwann überdrüssig geworden und ermüdet, der befündet süch üm Ürrtum! Ich bin schließlich gebürtiger Lübecker. Und ab öbermörgen sammle ich dann schöne, wohltönende Wörter mit Ö! Tschöhö!
    Für Nurcan

Vom Fegefeuer in die Hölle
    Alte Straßen in alten Städten tragen oft sonderbare Namen. Nicht immer erklären sich diese Namen von selbst; oft muss man Nachforschungen anstellen, um hinter ihr Geheimnis zu kommen. Eines aber haben alle Namen alter Straßen in alten Städten gemeinsam: Sie erzählen Geschichte.
    Ich war ein Landei: In Lübeck kam ich zwar zur Welt, doch aufgewachsen bin ich in einem Dorf rund zehn Kilometer weiter nördlich, zwischen Bauernhöfen und Wiesen. Lübeck übte daher immer einen besonderen Reiz auf mich aus: eine große Stadt mit dicht stehenden Häusern, belebten Straßen und hell erleuchteten Geschäften, mit schmückenden Giebeln, mächtigen Türmen und Toren.
    Wenn meine Großmutter mit dem Bus in die Stadt fuhr, durfte ich sie oft dabei begleiten. Für mich waren das Ausflüge in eine andere Welt: aufregend, abenteuerlich – und immer lehrreich. Meine Großmutter zeigte mir die Kirchen, das Stadttheater, die Museen, die Gänge und die Höfe; und auf meine vielen Fragen hatte sie fast immer eine Antwort parat. Da ich schon früh dem Zauber der Wörter erlegen war, faszinierten mich besonders die Lübecker Straßennamen. Bei uns auf dem Dorf gab es eine Hauptstraße, eine Poststraße und einen Westring; in Lübeck aber klangen die Straßennamen anders: manche geheimnisvoll, andere kurios, und alle erzählten sie Geschichten.
    So gibt es eine Reihe von Straßen, die Grube heißen, wie die Beckergrube, die Fischergrube und die Engelsgrube. Als Dorfkind kannte ich Gruben nur in Verbindung mit Kompost oder Häschen und wunderte mich, dass in Lübeck auch Menschen in Gruben lebten. Meine Großmutter erklärte mir, dass die Lübecker Gruben eigentlich Gräben waren, durch die einst das Regenwasser (und noch so manches andere) in die Trave abfloss. Außerdem lernte ich, dass die Engelsgrube nichts mit Engeln zu tun hat, sondern mit England, da sie zu jenem Teil des Hafens führte, in dem die Schiffe nach England ablegten. Eigentlich ist sie also eine »Englische Grube«, aber Engelsgrube klingt schöner. Eine weitere Grube mit einem klangvollen Namen entdeckte ich hinter dem Heiligen-Geist-Hospital: die Große Gröpelgrube. Auch wenn ich heute weiß, dass Gröpel auf das niederdeutsche Wort »Groper« zurückgeht, welches Töpfer bedeutet, so muss ich doch jedes Mal schmunzeln, wenn ich den Namen lese, denn für uns Kinder hieß sie immer die »Große Popelgrube«.
    Die Gruben werden gekreuzt von lauter Querstraßen mit bildhaften Namen: Es gibt eine Lichte Querstraße und eine dazu passende Düstere Querstraße. Es gibt die Einhäuschen Querstraße, in der aber längst nicht mehr nur ein einzelnes Häuschen steht. Es gibt eine Siebente Querstraße, aber nach einer Sechsten oder Fünften Querstraße sucht man vergebens, was daran liegt, dass die »Sieben« gar keine Zahl ist, sondern eine Abwandlung von »Sauen«; dort nämlich befanden sich einst Schweineställe. Außerdem gibt es eine Gerade Querstraße, was wie ein Widerspruch in sich erscheint, aber die Gerade trug ihren Namen in Unterscheidung zur Krummen Querstraße, die
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