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Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5

Titel: Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod: Folge 5
Autoren: Bastian Sick
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nämlich unerheblich: In jedem Fall handelt es sich um die Wiedergabe einer Vermutung, einer persönlichen Einschätzung.
    Wer etwas sagt oder behauptet, kann sich dabei übrigens genauso im Irrtum befinden wie jemand, der etwas denkt oder glaubt. Woher wissen wir, dass jemand die Wahrheit spricht, wenn er sagt, er sei müde? Womöglich ist das nur eine Ausrede!
    Weil die Wahrheitsfindung oft viel zu schwierig ist, unterscheidet die Grammatik nicht zwischen »trifft zu« und »trifft nicht zu«, sondern zwischen »wird als zutreffend dargestellt« und »könnte unter gewissen Bedingungen zutreffen oder zugetroffen haben«, also zwischen Tatsachenbehauptung und dem Aufzeigen einer Möglichkeit. Wenn es um die Wiedergabe von Tatsachenbehauptungen geht, ist der Konjunktiv I gefragt. Und den kümmert es nicht im Geringsten, ob sich die Behauptung im Nachhinein als richtig oder falsch herausstellt.
    Mit dem Konjunktiv I lässt sich noch die offensichtlichste Lüge darstellen:
Eva sagte, sie sei der Schlange nie begegnet.

Der Baron behauptete, er habe sich selbst an den Haaren aus dem Sumpf gezogen.
    Eva und der Baron haben mit ihren Behauptungen eine jeweils eigene Version der Wirklichkeit erschaffen, und das genügt der Grammatik, um den Konjunktiv I mit der indirekten Wiedergabe zu beauftragen.
    Der Konjunktiv II hingegen tritt auf den Plan, wenn es um die Beschreibung einer Möglichkeit geht: um das, was passieren könnte (Potenzialis), oder das, was hätte passieren können (Irrealis).
    Kolumbus hat, wie wir wissen, Amerika entdeckt. Er selbst allerdings wusste es nicht. Er glaubte, er habe einen Seeweg nach Indien entdeckt. Oder glaubte er nun, er hätte einen Seeweg nach Indien entdeckt? Nein: er habe; denn auch, wenn sich seine Annahme als falsch erwies, so wird Kolumbus’ Glaube im Konjunktiv I wiedergegeben. Denn Glaube ist eine Form der Tatsachenbehauptung, nicht das Aufzeigen einer Möglichkeit.
    Kolumbus glaubte also, er sei in Indien gelandet. Dies war seine Auffassung der Wirklichkeit, daher Konjunktiv I. Das Aufzeigen einer Möglichkeit, und somit ein Fall für den Konjunktiv II, sieht zum Beispiel so aus:
Kolumbus wünschte, er wäre zuhause geblieben.
    Zur Wiedergabe einer Vermutung oder Überzeugung hinter »denken« und »glauben« genügt der Konjunktiv I, egal in welcher Zeit:

    Dennoch tritt auch der Konjunktiv II gelegentlich in der indirekten Rede auf. Meistens dann, wenn der Konjunktiv I nicht deutlich genug ist:
Man sagte ihnen, sie hätten keine andere Wahl.
    Eigentlich wäre »haben« richtig, denn der Konjunktiv I von »sie haben« lautet »sie haben«. Weil zwischen »sie haben« im Indikativ und »sie haben« im Konjunktiv kein erkennbarer Unterschied besteht, springt aushilfsweise der Konjunktiv II ein, und so wird aus »sie haben« dann »sie hätten«. Zwischen »es ist« und »es sei« ist der Unterschied aber deutlich, sodass man auf die Aushilfe von »es wäre« verzichten kann. Wenn es trotzdem immer wieder geschieht, dass hinter »er dachte« und »er glaubte« ein »wäre« oder »hätte« auftaucht, dann liegt das daran, dass manche dem Konjunktiv I nicht recht trauen und zur deutlicheren Kenntlichmachung lieber gleich auf den Konjunktiv II zugreifen. Dies passiert häufig im Journalismus, wo es von großer Bedeutung ist, die wiedergegebene Rede von den eigenen Worten klar abzugrenzen.
    Es heißt, Regeln seien leichter zu behalten, wenn sie sich reimen, daher breche ich für Sie diesen Vers hier übers Knie:

Mehr zum Konjunktiv:

»Der traurige Konjunktiv« (»Dativ«-Band 2)
»Wenn man könnte, wie man wöllte« (»Dativ«-Band 4)

Wortzusammensetzungen mit Überlängenhöchstwahrscheinlichkeit
    Das Deutsche ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert. Angehörige anderer Kulturen zeigen sich oft beeindruckt von der literarischen Kraft des Deutschen und der Befähigung, Dinge klar und logisch darzustellen. Am faszinierendsten scheint jedoch die Möglichkeit, Wörter zu langen Gebilden zusammenzusetzen. Und dieser Möglichkeit sind theoretisch keine Grenzen gesetzt.
    Aufgrund der wachsenden Skepsis gegenüber der Europäischen Union beschäftigen sich britische Medien seit einiger Zeit verstärkt mit Deutschland und den Deutschen. Die Tageszeitung »The Guardian« widmete dem Thema gleich eine ganze Serie. Es ging darum, zu ergründen, was die Deutschen ausmacht: was sie leisten, was sie am besten können, was sie lieben, was sie fürchten, was sie denken und wie sie sprechen.
    Ein
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