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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios
Autoren: Wolf Serno
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großen Bett an der gegenüberliegenden Wand. Er war nackt, und sein Rücken war rot von Blut. So rot wie das Messer, das der riesige Schwarze über ihm in der Hand hielt.
    Arlette schrie auf.
    Der Schwarze rief irgendetwas, das sie nicht verstand, und sprang zur Seite.
    Beide musterten einander.
    »Indianer«, sagte Arlette endlich und war sich augenblicklich der Unsinnigkeit dieser Warnung bewusst. Ihre Hand hob die Radschlosspistole. Der kalte Griff der Waffe hatte etwas Beruhigendes. Sie richtete den Lauf auf den Riesen. »Warum hast du den Massa umgebracht?«, fragte sie mit einer Stimme, die sie selbst nicht kannte. »Ich werde dich töten.«
    Im Gesicht des Schwarzen, dessen Ausdruck eben noch wild entschlossen gewesen war, ging eine Verwandlung vor sich. Seine Augen quollen aus den Höhlen, und hastig trat er einen Schritt zurück.
    »Ich werde dich töten«, wiederholte Arlette und spürte, dass sie niemals dazu in der Lage sein würde.
    Der Riese wich einen weiteren Schritt zurück. Ohne recht zu wissen, was sie tun sollte, ging sie vor und trat auf der anderen Seite neben das Bett.
    Plötzlich vernahm sie ein Schluchzen, das von unten zu ihr hinaufdrang und deshalb keineswegs von dem Schwarzen stammen konnte. Sie senkte den Blick und entdeckte ein Bein: das schwarze Bein einer Negerin, die begraben unter Thomas’ schwerem Leib lag. Wieder das Schluchzen. Es war jenes Geräusch, das tagtäglich tausendfach auf dieser Welt zu hören ist und das jede Frau instinktiv erkennt: das Schluchzen einer vergewaltigten Frau.
    Arlette war versucht, der Schwarzen zu helfen, aber sie wusste nicht, wie. Wenn sie die Leiche von der Frau heben wollte, würde sie dazu beide Hände brauchen, was bedeutete, dass sie die Pistole aus der Hand legen musste. Das kam auf keinen Fall in Frage. Unschlüssig verharrte sie.
    Nachdem eine kleine Ewigkeit vergangen war, schien sich der Schwarze sicherer zu fühlen. Er trat einen Schritt heran und stieß abermals unverständliches Zeug aus.
    »Bleib, wo du bist.« Arlette richtete ihre Waffe auf seinen Kopf. Der Riese sprang zurück.
    »Ich beginne zu begreifen, warum du den Massa getötet hast. Wahrscheinlich ist die Schwarze deine Frau oder Freundin. Trotzdem wird man dich für diese Tat hängen.« Arlette wusste jetzt, was sie wollte. Sie bewegte sich rückwärts gehend zur Tür, wobei sie den Riesen nicht aus den Augen ließ. »Aber die Frau tut mir von Herzen Leid. Los, nimm den Massa von ihrem Körper herunter.«
    Erst nachdem sie mehrmals eine erklärende Handbewegung gemacht hatte, nickte der Riese verstehend. Er packte Thomas bei den Schultern und drehte ihn um. Der willenlose Leib entglitt seinem Griff und sackte vom Bett. Arlette sah, dass Thomas’ Penis noch immer halb aufgerichtet war. Ekel erfasste sie. Fort, nur fort von dieser Stätte des Grauens! Rasch wandte sie sich um – und zuckte am ganzen Körper zusammen.
    Vor ihren Augen, krachend und alles zersplitternd, fraßen sich Kriegskeulen durch die Tür.

Der Examinator Banester
    »Donnerwetter, schon so spät? Nun, ich muss gestehen, dass ich mich eines kleinen Hungergefühls nicht ganz erwehren kann.«
     
    H arvey Blossom war ein kleiner Mann mit einer Gesichtshaut, der man ansah, dass sie nicht häufig mit dem Tageslicht in Berührung kam. Seine Hände, mit denen er gestenreich zu reden pflegte, waren knochig, sein Gesicht faltig und sein Kopf nahezu kahl. Er zählte dreiundvierzig Jahre, und einen Großteil dieser Jahre hatte er als Hausdiener des Sehr Ehrenwerten John Banester verbracht – seines Zeichens Lizentiat von Oxford, Professor in London und Cirurgicus Ihrer Majestät Königin Elisabeth I. von England.
    An diesem trüben Morgen, da wieder einmal Nebel die Ufer der Themse einhüllte, näherte sich Harvey vorsichtig der Tür zum Allerheiligsten seines Herrn. Er wusste, dass Banester zu unwirschem Gebaren neigte, wenn er in seinem Arbeitsraum gestört wurde, dies umso mehr, wenn er unpässlich war.
    Der Diener klopfte und trat, ohne eine Antwort abzuwarten, ein. »Sir, ich darf Euch melden …«, hob er an und brach augenblicklich wieder ab. Zu ungewöhnlich war der Anblick, der sich seinen Augen bot. In der Mitte des Raums, einem Felsblock gleich, saß Banester unter einem riesigen, ihn zur Gänze bedeckenden Tuch. Seine sich abzeichnenden Ellenbogen standen weit gespreizt auf dem Arbeitstisch vor ihm. Keine Bewegung verriet, ob Leben in dem Felsblock wohnte, doch einige mühsam schniefende Laute, die
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