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Der Chirurg von Campodios

Der Chirurg von Campodios

Titel: Der Chirurg von Campodios
Autoren: Wolf Serno
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Grübchen, das gewissermaßen den Abschlusspunkt unter den klaren Gesichtslinien bildete.
    Auch seine Kleidung durfte als bemerkenswert bezeichnet werden. Zwar fiel sie nicht aus dem Rahmen, denn eine gepolsterte Oberschenkelhose und ein gut sitzendes ausgestopftes Wams waren auf Londons Straßen nichts Ungewöhnliches, doch war sie aus kostbaren Tuchen hergestellt. Banester hatte ein Auge für so etwas.
    Zu seiner Verwunderung wurde sein Blick ganz offen erwidert. Im Gegensatz zu den meisten Prüflingen, die ängstlich und aufgeregt waren und den direkten Blickkontakt mieden, musterte dieser Examinand ihn genauso sorgfältig. Wobei weder Anmaßung noch fehlender Takt in seinen grauen Augen lag, lediglich eine gute Portion Neugier.
    Banester fühlte sich bemüßigt, etwas zu sagen. »Nun, Sir«, sprach er mit voller Nase, »ich nehme an, Ihr seid Vitus von Campodios.«
    »So ist es, Professor. Ich freue mich, Eure Bekanntschaft zu machen.« Der Mann sprang auf und verbeugte sich höflich. »Den beiden anderen Herren habe ich mich bereits vorgestellt.«
    »Sehr schön. Ihr habt Euch also entschlossen, vor diesem Prüfungsausschuss das Einschiffungsexamen abzulegen – warum?« Banester nahm ächzend zwischen Clowes und Woodhall Platz. Ein schwerer Eichentisch, auf dem ein Totenschädel mit kreisrunden Trepanationslöchern lag, trennte ihn jetzt von dem Examinanden.
    »Nun, wenn Ihr gestattet, Professor, hole ich dazu etwas aus: Noch vor gar nicht langer Zeit, innerhalb der Klostermauern, galt meine ärztliche Kunst ganz selbstverständlich als gutes, gottgefälliges Werk – heute jedoch, außerhalb der Mauern, wird sie häufig schief angesehen. Man misstraut meiner Arbeit, ja, man beschimpft mich mitunter sogar. Warum ist das so? habe ich mich immer wieder gefragt und endlich die Ursache erkannt: Mir fehlt ein Titel, Sir, denn ohne Titel gilt niemand etwas in diesem Land. Einen Medicus, als welchen ich mich dem Wissen nach verstehe, darf ich mich nicht nennen, und alle anderen Titel kommen für mich nicht in Frage, denn als Bader, Feldscher, Schneidarzt, Bruchschneider, Wundstecher, Zahnbrecher oder sonst wie kann sich jedermann bezeichnen, ohne eine Ausbildung nachweisen zu müssen. Etwas Schriftliches in der Hand zu haben, das ist es, worauf es meiner Meinung nach ankommt.«
    »Sehr wahr«, meldete sich William Clowes zu Wort. Er war ein kleiner, unscheinbarer Mann mit Halbglatze und schmalen Schultern. Dass er einer der besten Militärchirurgen und Anatomen Englands war, sah ihm niemand auf den ersten Blick an. »Doch wenn Ihr Euch als Medicus versteht, solltet Ihr wissen, dass die Kunst eines solchen mehr darin zu sehen ist, den menschlichen Corpus in seiner Gesamtheit zu erkennen: das Funktionieren der Organe beispielsweise, ihre Verflechtung miteinander und ihr Zusammenwirken mit den Adersträngen, der Muskulatur, den Nerven et cetera, et cetera – der Cirurgicus indessen ist eher für das Grobe, das Äußere zuständig. Bei ihm fallen Dinge wie Diagnose, Therapie und Indikation kaum ins Gewicht, von den Geheimnissen der Vier-Säfte-Lehre oder der Harnschau gar nicht zu reden … Nun, all das sind Gründe, warum ein Medicus an der Universität aus der
Anatomie
des Galenos zwar liest, aber keinesfalls die entsprechenden Schnitte am Körper des Leichnams vornimmt. Diese Arbeit überlässt er seinem Gehilfen, dem Prosektor. Oder dem Cirurgicus.«
    »Das ist mir bekannt, Sir«, antwortete der Examinand respektvoll. »Ich darf wohl behaupten, dass ich in Theorie und Praxis gleichermaßen bewandert bin. Mein Herz jedoch schlägt für die Praxis. Ich operiere lieber eine Hasenscharte, als dass ich eine lange Vorlesung halte, doch gebe ich zu: Beides hat seine Berechtigung.«
    »Wenn ich Euch recht verstehe«, bemerkte nun Woodhall scheinbar nebenbei, »habt Ihr das Wissen eines Medicus, wollt aber lieber mit Blut und Eisen arbeiten. Heißt das nicht Perlen vor die Säue werfen?«
    Das war eine kleine, wohl überlegte Provokation.
    Sie war Teil des Examens und typisch für Woodhall. Dem sechs Fuß langen, mit seinen hängenden Armen an eine Trauerweide erinnernden Arzt machte es diebische Freude, derartige Pfeile abzuschießen. Doch hatte das Ganze auch einen konkreten Hintergrund, denn die Gentlemen wollten wissen, wie leicht ihre Prüflinge aus der Fassung zu bringen waren. Brausten sie auf oder wurden sie gar laut, war das kein gutes Zeichen, sondern ein Indiz dafür, dass sie sich auch bei anderer Gelegenheit
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