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Der Brombeerpirat

Der Brombeerpirat

Titel: Der Brombeerpirat
Autoren: Sandra Lüpkes
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Alides letzter Wille, dass du die Häuser bekommen sollst, Leefke. Und das war auch gut und richtig so. Jetzt gehört Veit und Heiko Konstantin genauso viel wie dir, und sie haben zudem noch das Recht, deinen Anteil zu verwalten. Ich bin mir sicher, wenn es einen Himmel gibt, dann sitzt Oma Alide auf einer Wolke und ist todunglücklich, dass sie ihr Testament nicht mehr ändern konnte.«
    Leefke fuhr herum, sie sah wütend aus, wütend und unendlich traurig. »Ich hätte lieber nur eine … eine alte Keksdose von ihr geerbt, wenn sie nur ein paar Jahre älter geworden wäre. Es ging mir doch niemals um den Nachlass.«
    »Sag mal, wo lebst du eigentlich? Ich hätte dich für intelligenter gehalten! Es geht doch gar nicht um dich. Es geht darum, dass sie ihren Söhnen nichts vererben wollte. Was hättest du alles aus den Häu sern machen können? Einen Probenraum für die ›Piraten‹, eine neue Diskothek, einen Treffpunkt für uns, was weiß ich? Du hättest deine Oma auf diese Weise unsterblich machen können.« Einen Augen blick später hätte Pinki sich am liebsten auf den Mund geschlagen, dass sie so dumm dahergeredet hatte. Doch im Grunde genommen waren es nur die Gedanken, die wohl jeder in der Clique schon gehabt hatte.
    Nervös kramte sie sich eine Zigarette hervor, nahm ein Streichholz, ließ die Flamme zischend auflodern und nahm einen tiefen Zug. Sie sah, wie sich das kleine Feuer gierig an dem kleinen Holzstäbchen hinunterfraß, bis es einige Millimeter vor ihren Fingern glimmend erlosch.
    Leefke legte sanft den Arm um ihre Schultern. Auch sie verfolgte den hellgrauen Zigarettenrauch, der sich in der Abendluft verflüchtigte. »Vielleicht ist beides nicht richtig. Wenn wir den Menschen von dem Mord erzählen, so werden wir auf ewig mit dieser Geschichte in Verbindung gebracht werden. Jeder auf Norderney wird uns ansehen und denken: Siehst du, das ist eine von denen, für die Alide Konstantin ihr Leben lassen musste. Eine von denen, die nicht zufrieden waren mit dem, was sie hatten, die mit ihren Forderungen auf Teufel komm raus ein tödliches Ärgernis wurden. Wir werden auf ewig gebrandmarkt sein. Und das wird unsere Freundschaft zerstören.«
    Pinki sagte nichts. Was sollte sie sagen? Leefke hatte Recht.
    »Doch ebenso werden wir vor die Hunde gehen, wenn wir die Wahrheit verschweigen. Denn wir alle wissen, dass wir nichts Unrechtes verbrochen haben. Vielleicht haben wir nicht immer ganz richtig gehandelt, doch unsere Beweggründe waren immer ehrlich. Eigentlich haben wir doch nur Angst. Angst vor den Vorwürfen, die wir alle schon tausendmal gehört ha ben. Und ich sage dir, ich habe eine Scheißangst, egal, wie ich mich jetzt entscheiden werde.«
    »Und was wirst du tun?« Pinki traute sich kaum, diese Frage zu stellen.
    »Entweder werde ich jetzt hinuntergehen, Rika zur Rede stellen und dann mit ihr zu Jasper fahren, und das wird alles verdammt hart werden. Ich werde euch alle verraten, meine Freunde hintergehen, ihren Willen missachten … ihr werdet mich alle hassen!«
    Leefke schluchzte gequält auf, doch sie weinte nicht.
    »Oder?«, fragte Pinki.
    »Oder ich …« Leefke legte ihre Wange auf den warmen Stein der Mauer und schaute in den Himmel.
    Und dann hielt Pinki ihr die Streichhölzer hin.
    »Wenn ich das lange Streichholz ziehe, werde ich allen die Wahrheit sagen«, sagte Leefke und zog.
    Doch Leefke Konstantin zog das kurze.

32.
    Wencke spürte die Beine nicht mehr. Ihre Lungenbläschen füllten sich schmerzhaft und mühsam mit Atemluft, die Kleider klebten nass und schwer an ihrem Körper. Der tosende Herzschlag trieb das Blut in ihre Glieder; sie fühlte unter dem Verband die Wunde wütend pulsieren. Doch sie rannte weiter. Es blieb keine Zeit.
    Keine Zeit, den anderen ihre Panik zu erklären, keine Zeit, logisch und besonnen vorzugehen. Sie wusste, auf dem Dach der Klinik stand ein Mädchen im Regen und wollte seinem Leben ein Ende setzen. Wollte ihrer Freundin folgen, die in den letzten Tagen wie ein unerreichbares Vorbild ihren Weg begleitet, vielleicht sogar bestimmt hatte. Pinki hatte gesehen, wie leicht es war, dem Tod entgegenzukommen. Die Schwelle war verdammt niedrig.
    Die automatischen Türen konnten sich nicht schnell genug öffnen, Wenckes schwitzende Handflächen hinterließen matte Streifen auf dem Glas, als sie hindurchfiel. Der Aufzug war nicht da, sie musste zu Fuß nach oben. Zur Rechten führte eine schwere Tür zum Treppenhaus, sie stieß sie mit dem Körper auf und
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