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Der Brombeerpirat

Der Brombeerpirat

Titel: Der Brombeerpirat
Autoren: Sandra Lüpkes
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den Kopf. »Keiner hat sie kommen oder gehen sehen. Sie muss nach Hause gekommen sein, hat dann den Brief gefunden und ist wahrscheinlich direkt wieder losgegangen.«
    »Und wohin? Vielleicht hat sie mich gesucht?«, kam es Wencke in den Sinn. Doch es war hoffnungslos. Wo hätte sie denn nach ihr suchen sollen?
    »Ich habe sie gesehen!«, schaltete sich Remmer ein. »Sie ist mir in der Nähe von ›Optik Claussen‹ über den Weg gelaufen, als ich im Taxi die Jann-Berghaus-Straße entlangfuhr. Sie hatte fast gar nichts an, nur eine kurze Hose und so ein leichtes Unterhemd, war klatschnass und lief wie von Sinnen über die Straße. Ich hätte sie fast überfahren.«
    »Und in welche Richtung ist sie gelaufen?«
    Remmer zuckte die Schultern, er sah so elend aus. »Zum Strand, würde ich sagen!«
    Swantje begann heulend gegen Jens’ Brust zu trommeln. Sie brachte fast kein Wort heraus. »Wie konntet ihr nur … diese beschissenen Briefe … gerade Pinki!«
    Wencke ging zu ihr, zog sie langsam zu sich heran und wollte das zitternde Mädchen beruhigen, doch Jasper hatte von hinten die Arme um sie gelegt und hielt sie behutsam fest, bis sie nicht mehr schrie. Dann schaute er in die Runde. Wencke bemerkte die Blicke der fast erwachsenen Kinder, die sich hoffnungsvoll an ihm festklammerten. Er war ein wunderbarer großer Bruder.
    »Pinki ist nicht so, wie sie immer tut. Sie ist nicht so cool und unantastbar. In Wirklichkeit ist sie schrecklich verletzlich. Und da habt ihr mit den Briefen natürlich ganz schön viel mehr bei ihr angerichtet, als euch bewusst war.«
    »Scheiße«, sagte Philip.
    »Es ist aber im Moment ganz egal. Wir müssen alle überlegen, was sie jetzt tun könnte. Wo sie jetzt sein könnte. Versetzt euch in ihre Lage, ihr kennt sie am besten. Stellt euch vor, sie ist rasend vor Angst. Sie weiß nicht, wohin. Sie hat keine Ahnung, an wen sie sich wenden kann, wer ihr hilft. Was tut Pinki in diesem Augenblick?«
    Keiner sprach ein Wort. Wencke schaute nach o ben, wo sich am Horizont in Sekundenschnelle Blitze vom Himmel nach unten fallen ließen. Sie rieb sich die nackten Oberarme, es war nun kalt geworden, bitter kalt. Der Regen zeichnete seine nassen Spuren auf ihre Haut, der Wind fegte darüber hinweg und hinterließ ein Gefühl, als wären die Tropfen zu Eis gefroren.
    Jens begann, hemmungslos zu kichern. Er bog seinen riesigen Jungenkörper fast, so sehr schüttelte ihn dieses hysterische Lachen.
    »Hör auf!«, fuhr ihn Wilko an.
    Doch Jens rieb sich die Tränen aus den Augen, die vom Regen kaum zu unterscheiden waren. »Ich weiß, was sie jetzt tut.« Er musste husten.
    Jasper starrte ihn an. »Es ist egal, wie albern es klingt. Sag, was du meinst, es ist wichtig.«
    »Was macht Pinki, wenn es richtig hart kommt?«
    Die anderen standen hilflos neben ihm.
    »Sie setzt sich hin und raucht eine!«, brach es aus Jens hervor. »Pinki setzt sich hin und steckt sich mit ihren beschissenen Streichhölzern eine beschissene Zigarette an.«
    »Ja, und?«, fragte Swantje aggressiv.
    »Und dann nimmt sie das abgefackelte Streichholz und ein neues und lost mit sich selbst aus, was sie tun soll.«
    Wencke horchte auf. Auch bei ihrer Begegnung hatte Pinki um ihr Schicksal gelost, hatte die Hölzer in der Hand entscheiden lassen, ob sie ihr die Geschichte erzählen sollte oder nicht.
    Jens’ Lachen endete so abrupt, wie es begonnen hatte. Schwach ließ er sich auf den nassen Boden sinken. »Es ist Pinkis Macke. Sie kann sich nie entscheiden. Sie nimmt immer diese Dinger zu Hilfe. Auch mit Leefke hat sie es ständig gemacht. Wer von uns beiden zieht heute Abend die Lederjacke an, du oder ich?« Jens keifte mit hoher Stimme, so als wolle er die beiden Freundinnen parodieren.
    »Das stimmt!«, sagte Swantje. »Gehen wir heute ins Kino oder gucken wir Fernsehen? Essen wir Chips oder Pizza? Hören wir ›Fettes Brot‹ oder die ›Piraten‹?«
    Wenckes Kopf rotierte. Es ging um Entscheidungen. Bei Pinki und Leefke ging es um mehr als um Chips oder Pizza. Es ging um Wahrheit oder Pflicht. Es ging um Freundschaft oder Verrat. Es ging um Leben oder Tod.
    Und diese Entscheidung war getroffen worden. Und zwar nicht in Pinkis Zimmer. Es war woanders geschehen, und es war unmittelbar in die Tat umgesetzt worden.
    Wahrheit oder Pflicht. Freundschaft oder Verrat. Leben oder Tod.
    Sie hatte auf dem Dach der Maritim-Klinik zwei Streichhölzer liegen sehen.

31.
    Es war sinnlos, sich unterzustellen. Warum?
    »Kind, du wirst dich
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