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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Autoren: Gabriele Goettle
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das ist es, was mich so traurig macht, die haben keine Lebenslust. Sind depressiv und ohne Perspektive. ›Warum, Frau Rubach, soll ich das denn machen?!‹ fragen sie mich, und ich sage diesen Spruch: ›Du hast keine Chance, aber nutze sie.‹ Und ich sage: ›Mach’s für dich!‹ Aber ich empfinde das natürlich als enormes Problem, daß sich weit und breit niemand findet in der Politik, der diesen Jugendlichen sagt, daß man sie nicht braucht.«
    Hier möchten wir eine uns besonders wichtige Frage stellen. Seit längerer Zeit schon fiel uns auf, daß in der Rapperszene und besonders in der Jugendsprache das Wort ›Opfer‹ eine große Rolle spielt. Aber nicht in seiner üblichen Bedeutung, sondern als Beschimpfung und Denunziation. Was hat es damit auf sich? »Also, als ich bemerkt habe, daß das ein Schimpfwort ist«, sagt Frau Rubach, »das ist schon eine Weile her, da war ich sehr befremdet. Es war im Deutschunterricht, wir haben einen literarischen Text bearbeitet. Ich sagte, eine Textstelle interpretierend: ›Er hat ein Opfer gebracht, er hat sich aufgeopfert.‹ Da fing die ganze Gruppe an zu brüllen vor Lachen. Ich sage: ›Leute, was ist plötzlich mit Ihnen los? Warum lachen Sie bei dem Wort Opfer?‹ Sie erklärten, daß es ein schlimmes Schimpfwort ist für sie, eine Beleidigung. Also, wenn zu einem gesagt wird: ›Du Opfer, du!‹, dann zuckt der zusammen, oder er sagt: ›Respekt, ey!! Nicht ich bin ein Opfer, du bist ein Opfer!‹ Also, ich war vollkommen perplex. Ich sagte: ›Ein Opfer erleidet doch immer etwas, wie kann das plötzlich zum Schimpfwort werden?‹ Und ich habe gesagt: ›Wir alle hier sind Opfer. Sie sind Opfer dieser Politik, und auch ich bin ein Opfer dieser Politik.‹ Ich versuche immer, sie zu politisieren, selbstbewußter zu machen, in die Gewerkschaften zu bringen.
    Sie begreifen zwar, was ich meine, benutzen aber das Schimpfwort weiterhin. Ich habe natürlich mit Kollegen gesprochen, denen ist das auch aufgefallen. Die meinten, es hängt vielleicht mit diesem ›Happy slapping‹ zusammen. (Engl. ›glückliches Schlagen‹. Andere Jugendliche, oder auch unbekannte Passanten werden als Opfer ausgespäht und überfallartig ins Gesicht geschlagen, getreten, gedemütigt und gequält. Wobei der einzige Zweck dieser Tat – die als Heldentat gilt – darin besteht, sie mit dem Handy zu filmen. Das Video wird dann im Internet zur Schau gestellt bzw. über die Infrarotstelle von Handy zu Handy weitergegeben und getauscht, wie ehemals die Sammelbildchen. Anm. G. G.) Vielleicht kommt es daher, es soll ja an vielen Schulen aufgetaucht sein. Also, bei uns an der Schule jedenfalls gibt es das bis jetzt noch nicht. Die Hausordnung hat strenge Regeln. Sobald wir etwas bemerken, wird sofort die Polizei gerufen. Bisher war es nicht nötig. Ich glaube, das Wort ›Opfer‹ nimmt langsam auch wieder eine andere Richtung an, im Sinne von: ›Ey, Opfer, was läuft?‹ Also, es wird liebevoller, wenn sie sich gegenseitig ›Opfer‹ nennen, weil sie sich dabei nicht mehr an den Kragen gehen. Die Bandbreite ist inzwischen schon da, es meint auch, wir tun uns zusammen, wir Opfer. Ja, wir Opfer ! Das habe ich beobachtet.
    Und das sind sie ja als Kinder von sozial Schwachen. 50 Prozent der türkischen Väter unserer Jugendlichen sind arbeitslos! Unfreiwillig! Für Jahre! Und die prügeln oft ihre Söhne, ihre Töchter. Sie können sich nicht mehr anders Respekt verschaffen, haben keine Autorität mehr als Familienoberhaupt. Und da kommt diese Gewalt auch her, aus der Erziehung mit Schlägen. (Die hatte auch bei uns eine überraschend lange Tradition, das Züchtigungsrecht der Eltern wurde in Deutschland erst im Jahr 2000 gesetzlich abgeschafft. Anm. G. G.) Allerdings, darauf lege ich sehr großen Wert, auf diese Feststellung: Körperliche Gewalt ist kein ethnisches Problem. Das wird gerne so dargestellt. Es ist aber falsch, wenn man sie auf einen Migrationshintergrund fokussiert. In Neukölln z. B. wohnen so viele arme Deutsche, also deutschstämmige Leute. Es hat nichts mit der Herkunft zu tun, sondern mit der sozialen Lage. Das ist eine Schicht. Subproleten. Verarmte ehemalige Arbeiterklasse oder abgesunkener verarmter Mittelstand. In all diesen Haushalten herrscht Gewalt, Reduziertheit, Resignation. Sie alle werden ja auch systematisch ausgeschlossen, immer mehr, und natürlich auch vom Genuß der Bildungsgüter.
    Schlimm, wenn nicht schlimmer, ist die institutionelle Gewalt an den
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