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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Es ist ein soziales Problem! Die Grundlage bei den deutschen, türkischen, arabischen, kroatischen und sonstigen Jugendlichen, die ist vollkommen identisch: Teils lallende oder vor RTL einschlafende Eltern. Und die Jugendlichen vollgestopft mit irgendwelchen Vorurteilen. Sie sind antisemitisch, antiarabisch, homophob, sexistisch. Ihr Nichtwissen ist unendlich! Das ist das, was mich immer so frappiert. Also, wann war der Zweite Weltkrieg? Nichts. Wenn man’s erklärt, das nächste Mal haben sie es wieder vergessen. Oder sie fragen, wann war der III. Weltkrieg? Ich bleibe ganz ruhig. Nie lachen. Niemand darf lachen in so einer Situation! Da wäre ich ja ein ganz schlechter Lehrer. Ich erkläre es ihnen. Wobei ich die Jugendlichen nicht duze. Es läßt sich, nebenbei bemerkt, auch besser schimpfen, wenn man ›Sie‹ sagt. Ein Problem ist auch, daß sie nicht lesen. Die haben noch nie ein Buch in der Hand gehabt. Die lehnen das entsetzt ab. ›Wäh … ein Buch!‹
    Ich mache eine Unterrichtseinheit, die zieht sich durch und nennt sich in der Fachsprache ›Lesen-Verstehen-Zusammenfassen‹. Das können Zeitungsartikel sein, Texte aus Büchern, Lehrbüchern oder didaktische Texte. Schon beim Lesen merke ich, daß die Leute nicht richtig lesen können. Laut vorlesen geht nicht. Sie genieren sich, holpern, lesen falsch vor, Fremdwörter sind ganz schwer vorzulesen. Englisch geht manchmal. Oder die Zeile rutscht ihnen weg. Die lesen ja noch mit dem Finger. Also, wir üben viel das Lesen, und irgendwann werden sie ruhig, ganz relaxed, und hören zu. Mit denen, die etwas weiter sind, lese ich jetzt von Horvath ›Jugend ohne Gott‹. Sie lesen es gern und lachen.
    Aber zurück. Der nächste Schritt ist, mit dem Marker unbekannte Wörter unterstreichen, sie verstehen lernen. Also, der ist oft sehr überraschend, ihr Wortschatz. Beispielsweise ›unlauter‹, kennen sie nicht, ›unlauterer Wettbewerb‹, nie gehört. Oder ›Korrespondenz‹, nichts. Und die sollen ja lernen für einen Büroberuf! In einem Zeitungsartikel kam das Wort ›Putsch‹ vor, es war unbekannt. Ebenso das Wort ›wohlhabend‹. Das zweite h wurde überlesen, es kam ›wohlabend‹ heraus. Das Verb ›äußern‹ wurde mit ›außen‹, ›äußerlich‹, in Verbindung gebracht und deshalb nicht verstanden, auch nicht im Kontext. Oder ›hymnisch‹, ich fragte: Was ist denn eine ›Hymne‹? Antwort: Ein ganz wildes Tier. Ich hab’s dann anhand der Fußballweltmeisterschaft erklärt, am Singen der Nationalhymne. Da haben sie sich erinnert. Am nächsten Tag schenkten sie mir ein aus dem Internet heruntergeladenes Bild einer Hyäne, dafür liebe ich sie. Und ich liebe sie, weil ich täglich mit ihnen zu tun habe, weil mir ihre Defizite liebenswürdig, weil erklärlich erscheinen.
    Und wieder zurück: Dann schriftlich das Gelesene zusammenfassen, der dritte Schritt. Es ist oft so, daß sie noch nach einem Jahr nicht in der Lage sind, nur das Wichtigste zusammenzufassen. Sie können nicht unterscheiden, verzetteln sich im Unwichtigen. Ich sage immer, sie würden sich der Sache am schnellsten nähern, wenn sie alle Beschreibungen weglassen und nur das nackte Gerüst betrachten, um einen Extrakt zu machen. Denn sie sollen ja quasi lernen, wie man lernt, sich durch einen Text zu arbeitet oder durch ein Fachbuch. Das muß man üben, üben, üben. Das ist das A und O! Es ist erstaunlich, daß wir dennoch Leute nach drei Jahren zur Gesellenprüfung bringen. Am Anfang denkt man, man schafft das nie. Auch weil so viele Fähigkeiten fehlen. Ich bin eigentlich jedesmal erschrocken. Ich bringe z. B. alte Illustrierte mit. Sie sollen Bilder ausschneiden und mit den Bildern eine Bildergeschichte zu komponieren versuchen, aus sechs Elementen, sie dann beschreiben usw. So. Wenn ich schon sehe, wie die schneiden! Da mußten sie erst mal eine Stunde lang lernen: Gebrauch einer Schere. Sie halten sie falsch, schneiden unsauber. Also, die Geschicklichkeit im Umgang mit solchen Dingen ist gar nicht ausgebildet. Ein Linieal so festhalten, daß es nicht verrutscht, wenn man seinen Strich macht, das muß eben geübt werden. Beim Schreiben auf den Linien bleiben und einen Rand lassen, das muß geübt werden. Also, würde man bei solchen Kindern bereits im vierten, fünften Lebensjahr anfangen mit der Förderung, dann hätten sie diese enormen Defizite später nicht! Man weiß aus der Forschung, bei Neun- bis Zehnjährigen sind die Fenster eigentlich schon zu. Und uns

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