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Der amerikanische Architekt

Der amerikanische Architekt

Titel: Der amerikanische Architekt
Autoren: Amy Waldman
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versuchte, diese Information zu verarbeiten, erinnerte sich daran, wie Laila den weinenden kleinen Jungen am Tag des Mordes in den Armen gehalten hatte. Als Mo sie – auf ihre Enttäuschung vorbereitet – anrief, um ihr zu sagen, dass er seinen Entwurf zurückziehen würde, hatte sie nicht erwähnt, dass sie Abdul bei sich behalten wollte. Hatte sie zu diesem Zeitpunkt schon gewusst, dass das ihre Absicht war? Jedenfalls war er selbst derart mit seinen Entscheidungen beschäftigt gewesen, dass er nicht einmal auf den Gedanken gekommen war, sie könne dabei sein, ihre eigenen zu treffen. Jetzt erinnerte er sich an ihr Schweigen am Telefon, als er sagte, er würde das Land verlassen, und fragte sich, ob er die Brücken hinter sich erst dadurch endgültig abgebrochen hatte.
    Irgendwann einmal hatte sie Mo gefragt, ob er Kinder haben wolle.
    »Später«, hatte er wahrheitsgemäß geantwortet. Allerdings war dieses Später nie eingetroffen. Die Arbeit war sein Kind gewesen, sein Partner. Doch je mehr Gebäude er hinter seinem Namen auflisten konnte, desto hohler erschienen sie ihm als Rahmen für ein Leben. Jede reale Beziehung, die er im Lauf der Jahre eingegangen war, war im Sand verlaufen, die Phasen, in denen er allein war, hatten sich immer länger hingezogen und inzwischen in einen Dauerzustand verwandelt. Was er mit Laila gehabt hatte, der kürzesten und unauslöschlichsten seiner Beziehungen, war durch die Gedenkstätte ins Leben gerufen und durch sie auch wieder zerstört worden.
    »Laila«, sagte er. Der Name blieb ihm fast im Hals stecken. Er räusperte sich. »Laila Fathi. Haben Sie auch mit ihr gesprochen?«
    »Ja«, sagte Molly. »Ich kann Ihnen das Interview gern zeigen.« Ihre magischen Finger machten sich daran, die Geister herbeizurufen. In ein paar Sekunden würde Laila auf seiner Wand zu sehen sein. Diese Fata Morgana einer Erinnerung – vielleicht würde sie sich auflösen, wenn er ihr zu nahe kam.
    »Nein«, sagte er abrupt. »Nein, lassen Sie uns weitermachen. Ich habe nicht den ganzen Tag Zeit.«
    Auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Mo in Indien hatte Molly in Dhaka Station gemacht und Abdul interviewt. Dieses Interview wollte Mo sehen. Der junge Mann mit der angenehmen Hautfarbe und den dichten Augenbrauen blickte kummervoll in die Kamera. Mo konnte sich nicht erinnern, wie Asma ausgesehen hatte, und er hatte nie ein Foto des Vaters gesehen. Nach Asmas Tod war für Abdul ein Fonds eingerichtet worden, obwohl er dank der Entschädigungssumme, die sie erhalten hatte, eigentlich gut versorgt war. Aber entsetzt über ihre Ermordung – nachdem sie ihre Rede gesehen hatten, hatten sie das Gefühl, sie zu kennen – spendeten viele Amerikaner trotzdem. Auch Mo. Dann aber hatte er den Jungen vergessen, weil er mit den Veränderungen in seinem eigenen Leben beschäftigt war.
    »Ich kann mich nicht an New York erinnern«, fing Abdul an. »Ich war zwei, als ich weggehen musste, als ich mit der Leiche meiner Mutter hierher kam. Und mit all dem hier.« Die Kamera fuhr über eine penibel geordnete Sammlung von Kinderbüchern und Spielzeugautos und Nike-Schuhen und DVD s und Kleidern. Unberührt, unbenutzt, ungetragen. Diese Gegenstände waren immer nur betrachtet worden.
    »Meine Eltern haben Amerika idealisiert. Das weiß ich von meinen Verwandten. Immer und immer wieder bekam ich zu hören, dass meine Mutter sich nach dem Tod meines Vaters weigerte, nach Hause zu kommen. Hätte sie es getan, wäre sie noch am Leben. Das bekam ich ständig zu hören.«
    Schnitt. Nun sah sich Abdul mit absoluter Konzentration die Rede seiner Mutter auf der öffentlichen Anhörung an, ihre Verteidigungsrede für Mo. Mo sah, dass sich seine Lippen leise bewegten, passend zum Bengali seiner Mutter und zu der englischen Übersetzung des Mannes, der neben ihr saß. Abdul kannte jedes der Worte auswendig. Mo wollte nicht einmal daran denken, wie oft er sie sich im Laufe der Jahre angehört haben musste.
    Abdul hatte sich an Colleges in den Vereinigten Staaten beworben und war auch angenommen worden, hatte aber dem Druck seiner Verwandten nachgegeben und war in Bangladesch geblieben. Amerika lockte ihn, machte ihm aber auch Angst. Seine Eltern waren beide dort gestorben. Das war Grund, hinzufahren und nicht hinzufahren. Mo erinnerte sich, wie seine eigene Entscheidung, nicht nach Hause zu fahren, ihn dazu gebracht hatte, sich in seinem Bett zusammenzukrümmen. Wie viele Nächte hatte Abdul derart zusammengekrümmt
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