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Der Afghane

Der Afghane

Titel: Der Afghane
Autoren: Frederick Forsyth
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der Welt. Mit vierunddreißig wurde er zum Assistenzprofessor befördert, und mit vierzig war er für eine Professur vorgesehen. Er war einundvierzig, als die NSA an jenem Nachmittag um seinen Rat bat, und verbrachte gerade ein Jahr als Gastprofessor an der Georgetown University, denn im Frühjahr 2006 war sein Leben in Stücke gegangen.
    Der Abgesandte aus Fort Meade fand ihn in einem Hörsaal, wo Terry Martin eben eine Vorlesung über die Lehren des Korans und ihre Relevanz für die heutige Zeit zum Abschluss brachte.
    Selbst aus den Kulissen war deutlich zu spüren, dass seine Studenten ihn mochten. Der Hörsaal war brechend voll. Er gestaltete seine Vorlesung wie eine lange, zivilisierte Konversation unter Gleichen. Nur selten warf er einen Blick in seine Notizen. In Hemdsärmeln ging er auf und ab, und seine kleine, rundliche Gestalt verströmte den Enthusiasmus, mit dem er seine Gelehrsamkeit vermittelte und teilte. Jede Äußerung aus dem Auditorium behandelte er mit ernsthafter Aufmerksamkeit, und niemals demütigte er einen Studenten wegen mangelhaften Wissens. Er hielt seinen Vortrag knapp und ließ reichlich Zeit für die Fragen der Studenten. Die Frage-und-Antwort-Runde war im Gange, als der Agent aus Fort Meade in den Kulissen erschien.
    Jemand in einem roten Hemd in der fünften Reihe hob die Hand. »Sie haben gesagt, mit der Bezeichnung ›fundamentalistisch‹ in Bezug auf die Philosophie der Terroristen sind Sie nicht einverstanden. Warum nicht?«
    Angesichts der seit 9/11 über Amerika hinwegflutenden Woge des öffentlichen Interesses an allem, was arabisch, islamisch oder koranwissenschaftlich war, wechselte jede solche Fragerunde schnell von theoretischen Erkenntnissen zu den Angriffen gegen den Westen, die einen großen Teil der vergangenen zehn Jahre ausgefüllt hatten.
    »Weil die Bezeichnung falsch ist«, erwiderte der Professor. »Das Wort an sich impliziert eine ›Rückkehr zu den Grundlagen‹. Aber die Leute, die ihre Bomben in Zügen, Einkaufszentren und Bussen explodieren lassen, kehren nicht zu den Grundlagen des Islam zurück. Sie haben sich selbst ein neues Drehbuch geschrieben, und jetzt argumentieren sie retroaktiv und suchen nach Koranpassagen, die ihren Krieg rechtfertigen sollen.
    Fundamentalisten gibt es in allen Religionen. Christliche Mönche in einem geschlossenen Orden, die Armut, Selbstverleugnung, Keuschheit und Gehorsam geloben, sind Fundamentalisten. Asketen gibt es bei jeder Glaubensrichtung, aber sie befürworten keine Massenmorde an Männern, Frauen und Kindern. Das ist die entscheidende Erkenntnis. Beurteilen Sie alle Religionen und alle Sekten innerhalb dieser Religionen nach dieser Erkenntnis, und Sie werden sehen, dass der Wunsch nach Rückkehr zu den fundamentalen Glaubenslehren nicht zum Terrorismus führt, denn in keiner Religion, auch nicht im Islam, befürworten die fundamentalen Glaubenslehren den Massenmord.«
    Von der Seite her versuchte der Mann aus Fort Meade, Dr. Martins Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Aus dem Augenwinkel bemerkte der Professor den jungen Mann mit den kurz geschnittenen Haaren, dem Buttondown-Hemd und dem dunklen Anzug. Das Wort »Regierung« war ihm auf den Leib geschrieben. Der Mann tippte auf seine Armbanduhr. Martin nickte.
    »Wie würden Sie die heutigen Terroristen dann bezeichnen? Als Dschihadisten?«
    Die Frage kam von einer ernsthaften jungen Frau weiter hinten. Nach ihrem Gesicht zu urteilen, vermutete Dr. Martin, dass ihre Eltern aus dem Mittleren Osten stammten: aus Indien, Pakistan, vielleicht aus dem Iran. Aber sie trug kein Kopftuch, das sie als strenge Muslimin ausgewiesen hätte.
    »Auch ›Dschihad‹ ist das falsche Wort. Natürlich gibt es den Dschihad, aber er hat seine Regeln. Entweder ist er der persönliche Kampf im Innern eines Menschen auf dem Weg zu einem Dasein als besserer Muslim, doch in diesem Fall ist er frei von jeder Aggression. Oder er ist der wahre heilige Krieg – der bewaffnete Kampf zur Verteidigung des Islam. Darum, behaupten die Terroristen, geht es ihnen. Aber sie überpinseln die Regeln, die im Text stehen.
    Zum einen kann nur eine legitimierte Koran-Autorität von erwiesenem und anerkanntem Ansehen den Dschihad ausrufen. Bin Laden und seine Anhänger sind berüchtigt für ihren Mangel an Koran-Gelehrsamkeit. Selbst wenn der Westen tatsächlich den Islam und somit alle Muslime angegriffen, gekränkt, beschädigt, gedemütigt und erniedrigt hätte, gibt es immer noch Regeln, und der Koran
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