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Der 13. Brief

Titel: Der 13. Brief
Autoren: Lucie Klassen
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mich mein Vater beim Lügen erwischt, als ich elf war. Tatsächlich gingen die meisten Menschen wohl davon aus, dass ich vielleicht aufsässig und angriffslustig war, aber zumindest jedem meine Meinung ehrlich ins Gesicht sagte.
    Es war unheimlich wichtig, nie bei einer Lüge ertappt zu werden, denn das Wort ›Lügnerin‹ klebte wie das Preisetikett an einem Geburtstagsgeschenk. Zu lügen war für die meisten Leute ein schlimmerer Betrug als ein Seitensprung nach vierzig Jahren Ehe. Genau genommen rechneten viele doch sogar mit dem Seitensprung – nach vierzig Ehejahren ganz besonders. Wenn also ein notgeiler Mittsechziger zugab, mit einer Siebzehnjährigen in die Kiste zu steigen, war das lobenswert ehrlich und es hieß nachsichtig: Wenigstens steht er dazu!
    Bei einer Lüge waren die Leute nachtragender, ungeachtet der Tatsache, dass wohl die meisten Menschen logen, wahrscheinlich sogar mehrmals am Tag.
    Aber erwischen lassen durfte man sich eben nicht.
    Deshalb erstaunte mich, dass Danner, der bisher kaum mit mir gesprochen hatte, auf Anhieb zu wissen glaubte, in welchem Ausmaß ich log.
    »Wer lügt nicht?«, zuckte Molle die Schultern.
    Ich schwieg.
    »Vergiss es trotzdem! Wer auf meiner Couch pennt, bestimme immer noch ich!«
    »Nur, solange du Miete zahlst! Und wenn ich mich richtig erinnere, habe ich seit drei Monaten keinen Cent von dir gesehen.«
    Danner hörte auf zu kauen und funkelte Molle drohend an: »Du weißt genau, dass du die Kohle kriegst.«
    »Bis dahin arbeitet zumindest deine neue Untermieterin was ab.«
    Wütend sprang Danner auf und klatschte beide Hände auf den Tisch, dass die Marmeladengläser in die Luft hüpften. Sein Blick war so kalt, dass Molle eigentlich sofort auf seinem Stuhl hätte festfrieren müssen.
    Doch Molle verschränkte nur herausfordernd die Arme, während mir unbehaglich zumute wurde.
    Danner musterte mich scharf: »Was hast du ihm erzählt?«
    Er stand zu dicht neben mir, ich spürte das starke Bedürfnis, ein Stück von ihm wegzurutschen. Doch ich zwang mich, seinem Blick standzuhalten. »Er ist allein draufgekommen, ehrlich!«
    Danners Augen waren beunruhigend, kalt und klar und grau wie schmutziges Eis. Doch plötzlich blitzten Funken darin auf und waren genauso schnell wieder verschwunden.
    Ich blinzelte irritiert.
    »In Ordnung«, nickte er überraschend.
    Wie bitte?
    Danner ließ sich zurückfallen, schnappte sein Brötchen und drohte mit dem Messer in Molles Richtung: »Aber wenn sie ’ne Serienmörderin ist, hältst du mir eine todtraurige Grabrede, ist das klar?«
    Molle schob ihm einen Pott Kaffee hin: »Du bist nicht derjenige, um den ich mir Sorgen mache.«
    Danner löste einen Schlüssel von seinem Bund und warf ihn neben meinen Teller auf den Tisch: »Krieg ich Ärger mit dem Jugendschutz?«
    »Keine Panik. Ich bin einundzwanzig.«
    »Na schön. Du kannst die Wäsche machen und aufräumen. Finger weg von meinen Klamotten und geh mir nicht auf die Nerven, klar?«
    »Klar.«
    »Und das Wichtigste: Sprich nicht mit meinen Klienten!«
    »Wieso nicht?«
    »Weil du sonst rausfliegst.«
    Danner kippte seinen Kaffee runter, steckte ein halbes Käsebrötchen ein und griff nach seiner Sporttasche.
    »Hat der heute einen besonders guten Tag?«, erkundigte ich mich bei Molle, nachdem die Tür hinter Danner zugefallen war.
    Der Dicke nickte: »Normalerweise ist er ein Morgenmuffel.«
    »Toll.«
    »Glaub mir, nach ein paar Jahren fällt dir das kaum noch auf.«
    Ich war mir nicht so sicher, ob ich es überhaupt eine Woche bei dem Kerl aushielt – außer vielleicht, er verschwand morgens und tauchte erst wieder auf, wenn ich schlief.
    »Ich mache uns heute Mittag was zu essen.« Molle stellte die Teller zusammen. »Willste was Bestimmtes?«
    »Kartoffelpuffer?«
    Molle schnaubte verächtlich: »Meine leichteste Übung.«
    Ich trug die Marmeladengläser und Kaffeetassen in die Küche.
    »Mit Apfelmus?«, ergänzte ich.
    »Logisch.«
    Allein wegen Molle lohnte es sich, Danner zu ertragen. Irgendwie würde ich mit dem Arsch schon fertig werden.
    Die Küche der Kneipe war geräumig, die Arbeitsflächen sauber und die drei riesigen Kühl- und Gefrierschränke randvoll mit Lebensmitteln. Vom fettarmen Joghurt bis zum Eisbein konnte man darin alles finden, wenn man nur weit genug hineinkroch.
    Ich half, die Teller in den Geschirrspüler zu räumen.
    »Ich muss einkaufen, Schnitzel sind aus. Brauchst du was?«
    »Tampons, wenn möglich.«
    Molle klappte die Spülmaschine
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