Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Denn Wahrheit musst du suchen

Denn Wahrheit musst du suchen

Titel: Denn Wahrheit musst du suchen
Autoren: C. J. Daugherty
Vom Netzwerk:
konnte man das auch nicht machen. Und so ließ sie es irgendwann sein, zog sich den Kragen bis über die Ohren und vergrub sich bibbernd in ihrer Jacke.
    Sie musste irgendwann eingedöst sein, denn als der Zug donnernd in den Bahnhof einfuhr, schreckte sie hoch. Die lang gezogenen, roten Waggons waren voller Pendler in Anzug oder Kostüm, die von ihren Bürojobs nach Hause kamen. Ohne Allie eines Blickes zu würdigen, hasteten sie den Bahnsteig entlang, zurück zu ihren Autos, ihren warmen Wohnungen und ihren glücklichen Familien. Allie sah ihnen mit leeren Augen nach.
    Sie war derart versunken in ihre Beobachtungen und Grübeleien, wie es sich wohl anfühlen mochte, einer von
denen
zu sein, dass sie den Jungen gar nicht bemerkte, der sich angeschlichen hatte und nun plötzlich hinter ihr stand.
    »Darf ich mal Ihre Aufenthaltsgenehmigung sehen, Fräulein?«
    Allie sprang auf und warf sich derart stürmisch auf den Jungen, dass sie ihn beinahe umgeworfen hätte. Die Mütze flog ihr vom Kopf und landete einen halben Meter neben ihr auf dem Bahnsteig.
    »Mark!«, rief sie, drückte ihren Freund fest an sich und atmete dabei seinen Duft ein. Marks Klamotten rochen immer leicht nach Zigaretten, was ihr aber gar nicht unangenehm war.
    Er hatte sich die dunklen Haare an den Spitzen blau gefärbt und sie zu einem blau-schwarzen Wirrwarr verwuschelt. Durch die Strähnen lugte ein klitzekleiner Ohrring aus Gold, der zu dem Ring passte, der seine Augenbrauen zierte. Seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten, waren die Pickel weitgehend aus seinem Gesicht verschwunden, und er sah jetzt erwachsener aus. Doch seine Klamotten waren immer noch dieselben. An diesem Abend trug er zerrissene Jeans und ein verblichenes, schwarzes T-Shirt, auf dem in Spiegelschrift das Wort »Revolution« stand.
    Von Allies Ungestüm ganz offensichtlich überrascht, zögerte Mark einen Augenblick, ehe er ihre Umarmung erwiderte. »Was geht hier eigentlich ab, Allie? Was soll ich hier in …« Er unterbrach sich und beobachtete, wie die letzten Pendler aus dem Bahnhof strebten. »Wie heißt das Scheißkaff noch mal?«
    In diesem Augenblick musste sie wohl in den Lichtkegel der Notbeleuchtung getreten sein, denn sie bemerkte, wie er zum ersten Mal Notiz von der Narbe an ihrem Haaransatz nahm. Die Ärzte hatten ihr die Schläfen rasiert, damit die Wunde nicht verunreinigt wurde. Die Haare waren zwar inzwischen wieder nachgewachsen, doch die rot gezackte Linie war noch immer deutlich zu sehen.
    Mark pfiff anerkennend. »Hübsche Narbe. Mit wem hast du dich denn gekloppt?«
    »Ist ’ne lange Geschichte. Aber auch der Grund, warum ich dich angerufen habe«, sagte sie. »Ich brauch deine Hilfe.«
    »Was du nicht sagst.« Sie sah, wie er mit wachsender Sorge die Ringe unter ihren Augen betrachtete und wahrnahm, wie dürr und blass sie war. »Mann, du siehst echt scheiße aus, Al. Was haben die bloß mit dir gemacht?«
    Der Bahnhof hatte sich geleert. Ächzend und quietschend setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Aber Allie senkte die Stimme trotzdem.
    »Irgendwer hat versucht, mich umzubringen. Und jetzt kann ich nicht …« Sie hielt inne. Wie sollte sie das alles erklären? Mark hatte ja praktisch keine Ahnung von dem, was sie erlebt hatte, seit sie aus London weggegangen war. Er wusste nichts über Cimmeria und nichts von der Night School. Geschweige denn von Nathaniel und den Morden. Er war außen vor, außerhalb dieser Welt.
    »Komm, lass uns einfach in den nächsten Zug einsteigen und von hier abhauen«, sagte sie und packte in einem Anfall von Dringlichkeit seinen Arm. »Ich erzähl’s dir unterwegs.« Sie zerrte Mark zum Fahrplanaushang. »Lass mal sehen. Wann geht denn der nächste Zug nach London?«
    Ihr plötzlicher Stimmungsumschwung schien ihn unvorbereitet zu treffen. »Moment, Moment, immer mit der Ruhe«, sagte er und hob beschwichtigend die Hände. »Schau mal auf die Anzeige da.« Er deutete auf den beleuchteten Fahrplan neben der Tür zum Bahnhofsgebäude. »Der nächste Zug geht erst in zwei Stunden. Wir sind hier mitten in der Pampa. Hast du das vergessen?«
    Allie musste wohl die Kinnlade heruntergefallen sein, denn er überlegte sofort fieberhaft nach einer Alternative.
    »Lass uns erst mal irgendwo einen trinken gehen, wo man sich ungestört unterhalten kann. Wir haben jede Menge Zeit.«
    Allie gab nach. Sie warf noch einmal einen sehnsüchtigen Blick zurück auf die stillen Gleise und ließ sich widerstandslos von Mark aus dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher