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Denn das Glueck ist eine Reise

Denn das Glueck ist eine Reise

Titel: Denn das Glueck ist eine Reise
Autoren: Caroline Vermalle
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September

    Brest (Finistère)
    ....................
    Adèle schaute auf die Uhr. Es war 20.57 Uhr und in Frankreich eine Stunde später. Konnte sie ihren Großvater jetzt noch anrufen? Sie hatte sich vorgenommen, einmal pro Woche mit ihm zu telefonieren. Seit dem letzten Anruf waren schon zehn Tage vergangen. Sie hatte jedes Mal den richtigen Zeitpunkt verpasst. Aber sie erinnerte sich, dass die Unterhaltungssendungen, die abends immer im Fernsehen liefen, bestimmt noch nicht zu Ende waren. Die Chancen standen also gut, dass er ans Telefon ging. Nach dem zweiten Klingeln hob ihr Großvater ab.
    »Hallo, Adèle?«, sagte er in einem beschwingteren Ton als gewöhnlich.
    »Ja, Opa, ja, ich bin’s«, erwiderte sie ein wenig überrascht. »Ist alles in Ordnung, Opa?«
    »Ja, alles bestens. Ich sitze gemütlich im Wohnzimmer und sehe fern.«
    Irgendetwas stimmte da nicht. Sicher, Adèle rief ihren Großvater selten an, aber die Telefonate mit ihm ähnelten sich so sehr, dass sie die Gespräche im Voraus hätte aufschreiben können. Nur als ihre Großmutter gestorben war, verlief das Gespräch ein einziges Mal anders. Heute machte ihr Großvater keinen normalen Eindruck, und der Fernseher war sehr laut. Sie hörte etwas Seltsames: »Nehmen Sie im Kreisverkehr die zweite Ausfahrt.«
    Adèle überprüfte noch einmal, ob sie tatsächlich die Nummer des Festnetzanschlusses gewählt hatte.
    »Ist wirklich alles in Ordnung, Opa?«
    Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er antwortete. Adèle hörte, dass getuschelt wurde und dass jemand »pssssst« sagte.
    »Ja, alles in Ordnung, alles in Ordnung, nichts Neues. Und wie geht es dir?«
    »Ja, es ...«
    »Das ist schön. Dann mach’s gut. Tschüs.«
    »Opa, ist jemand bei dir?«
    »Nein, nein. Hier ist niemand. Ich sehe fern ...«
    KRAWUMMM! Ein ohrenbetäubender Knall, der sich wie ein Schuss anhörte, hallte durchs Telefon.
    »Opa! Opa, was ist los? OPA!«
    Adèle blieb keine Zeit zu begreifen, was passiert war. Die Verbindung war abgebrochen. Hektisch wählte sie die Nummer noch einmal. Es klingelte und klingelte, aber ihr Großvater meldete sich nicht. Sie versuchte es auf dem Handy. Dasselbe. Ihr Herz klopfte zum Zerspringen, und sie sah tausend verschiedene Schreckensszenarien vor Augen. War das wirklich ein Schuss gewesen? Eine Explosion? Sein Ofen ... sein uralter Ofen. Wahrscheinlich war er explodiert. Oder ein Einbrecher mit einem Gewehr? In diesem abgelegenen Kaff hatte doch jeder ein Gewehr! Was sollte sie jetzt tun? Die Polizei anrufen? Aber wie lautete die Telefonnummer der französischen Polizei? Glücklicherweise hob ihr Großvater schließlich ab.
    »Opa? Opa, was ist los? Opa, bist du verletzt? Ist alles in Ordnung?«
    »Oh, mein armes Kind«, sagte Georges mit zittriger Stimme.
    »Was ist passiert?«, fragte Adèle aufgeregt.
    »Versprich mir, dass du deiner Mutter nichts sagst.«
    Adèle war überrascht, aber auch erleichtert, dass er anscheinend schon daran dachte, seiner Tochter irgendetwas zu verheimlichen. Dann konnte es so schlimm nicht gewesen sein.
    »Jetzt sag doch endlich, Opa ...«
    »Adèle, meine Kleine«, erwiderte ihr Großvater schon wieder in festerem Ton. »Es ist nichts Schlimmes passiert, aber du musst mir versprechen, dass du deiner Mutter nichts erzählst, sonst regt sie sich schrecklich auf.«
    Adèle versprach es widerwillig. Darauf erklärte ihr Großvater ihr, dass sie im Auto saßen und dass Charles versucht hatte, »die Stimme der netten Frau aus dem Navigationssystem auszuschalten«. Doch er hatte auf den falschen Knopf gedrückt, und während er hektisch an allen Schaltern und Knöpfen im Scénic herumfummelte, übersah er den Wagen vor ihnen, der verlangsamte, um rechts abzubiegen.
    »Aber wie kann es denn sein, dass ihr in einem Auto sitzt, wenn ich bei dir zu Hause anrufe? Und wo seid ihr überhaupt?«
    »Dreißig Kilometer von Brest entfernt. Wir haben die Anrufe umgeleitet.«
    »In der Nähe von Brest?? In der Bretagne? «
    »Ja, im Departement Finistère.«
    Das Haus ihres Großvaters stand in Chanteloup. Brest. Das waren mindestens fünfhundert Kilometer.
    »Mensch, Opa, was macht ihr denn in Brest?«
    »Wir haben uns vorgenommen, die Tour de France zu machen.«
    »Opa, jetzt sag nicht ...«
    »Nein, nein, nicht mit dem Fahrrad, nur mit dem Auto.«
    »Dreitausend Kilometer mit dem Auto«, sagte Adèle, um sich zu vergewissern, dass sie alles richtig verstanden hatte.
    Ihr Großvater spürte wieder, wie stolz er darauf war.
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