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Dem Tod auf der Spur

Titel: Dem Tod auf der Spur
Autoren: Michael Tsokos
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werden, denn es fanden sich weder Einträge in den Unterlagen, noch war der Leichnam durch eine Leichennummer oder eine andere Identifikationsnummer oder Jahreszahl gekennzeichnet. Kopf, Hände und Füße fehlten, der Rumpf war hingegen vollständig intakt. Schon auf den ersten Blick fiel die ausgesprochen weibliche Physiognomie mit vollen Brüsten und ausladenden Hüften bei gleichzeitig sehr geringer Körpergröße auf.
    Ein Mitarbeiter, der bereits drei Jahrzehnte im Institut arbeitete, nahm mich zur Seite und eröffnete mir etwas, das sofort meine Neugier als Rechtsmediziner weckte: Er machte mich darauf aufmerksam, dass Physiognomie und Körpergröße an die kleingewachsene Rosa Luxemburg erinnerten, und erzählte dann, dass sich im Institut für Rechtsmedizin der Charité seit Jahrzehnten das Gerücht hielt, der Leichnam von Rosa Luxemburg habe das Institut nie verlassen. Um meiner Neugier nachzugehen, griff ich als Erstes zu einem Geschichtsbuch, denn mein Schulwissen über die damalige Zeit war leider verschüttet.
    Am 15. Januar 1919 wurden in Berlin Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die damals führenden Köpfe der europäischen Arbeiterbewegung und Mitbegründer der kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), festgenommen. Man verschleppte sie in das Stabsquartier der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, das am Kurfürstendamm gelegene Nobelhotel Eden. Nur wenige Stunden nach ihrer Festnahme wurden beide ermordet, nachdem man sie zuvor verhört und misshandelt hatte. Rosa Luxemburg wurde beim Verlassen des Hotels Eden von einem dort wartenden Soldaten mit dem Gewehrkolben niedergeschlagen. Schon auf dem Boden liegend, wurde sie erneut von einem Gewehrkolben getroffen. Nachdem die Soldaten die Schwerverletzte auf den Rücksitz eines offenen Wagens geworfen hatten, wurde sie weiter mit Schlägen malträtiert, ehe dasFahrzeug auf der Budapester Straße in Richtung Corneliusbrücke davonfuhr. Auf der Höhe der Nürnberger Straße sprang ein weiterer Soldat auf das linke Trittbrett des fahrenden Pkw und tötete die bereits schwerverletzte Rosa Luxemburg mit einem aufgesetzten Kopfschuss in die linke Schläfe. Den Leichnam warfen die Mörder dann in den Landwehrkanal. Bereits zehn Tage später, am 25. Januar, wurde Rosa Luxemburg neben Karl Liebknecht auf dem Zentralfriedhof in Berlin-Friedrichsfelde beerdigt.
    Doch ihr Sarg war leer – was sich schnell herumsprach und das politische Klima weiter anheizte.
    Die Suche nach dem Leichnam der ermordeten Revolutionärin, die mittlerweile Märtyrerstatus besaß, wurde zum Politikum, und die Regierung befürchtete nach dem brutal niedergeschlagenen Spartakusaufstand neuerliche Unruhen. Nichts war ihr unliebsamer als eine vermisste tote Märtyrerin. Zwischen Januar und Mai 1919 tauchten immer wieder Gerüchte auf, die Leiche Rosa Luxemburgs sei aus dem Landwehrkanal geborgen worden. Alle diese Gerüchte hatten sich jedoch als falsch erwiesen. In den späten Abendstunden des 31. Mai entdeckte der 76-jährige Schleusenwärter Gottfried Knepel an der Schleuse zwischen Unterer Freiarchenbrücke und Stadtbahnbrücke im Landwehrkanal die Leiche einer Frau. Diese wurde nach ihrer Bergung, wie bei unbekannten Toten damals üblich, in das polizeiliche Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße in Berlin-Mitte gebracht. Am 13. Juni 1919 wurde dieser Leichnam als Rosa Luxemburg beerdigt.Dieser historische Hintergrund, in dem vieles ungeklärt oder gar widersprüchlich erscheint, stachelte meine Neugier zusätzlich an. Ich entschloss mich zu ausgiebigen Recherchen, bei denen die oberste Devise lautete: Schau dir alles so sachlich, gründlich und unbefangen an wie deine Fälle im Sektionssaal.
    Als Erstes versuchte ich herauszufinden, ob die verstorbene Rosa Luxemburg überhaupt im polizeilichen Leichenschauhaus eingeliefert worden war, in das zu dieser Zeit alle unbekannten Leichen und eines gewaltsamen Todes Gestorbenen aus Berlin gebracht wurden, bevor man sie zur weiteren Untersuchung ins rechtsmedizinische Institut im selben Gebäude verlegte.
    Im Archivbuch unseres Instituts von 1919 fand sich tatsächlich unter der Leichennummer 1480/19 der Eintrag: »Rosa Luxemburg, Dr. jur., Schriftstellerin. Geboren 05.03.1871 in Zamost, russ. Polen. Aufgefunden 31.05.1919 Schleuse an der Unteren Freiarchenbrücke am Landwehrkanal.« Rosa Luxemburg war nach ihrer Bergung aus dem Landwehrkanal also tatsächlich in das dem rechtsmedizinischen Institut der Charité angegliederte
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