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Das Zimmermaedchen

Das Zimmermaedchen

Titel: Das Zimmermaedchen
Autoren: Markus Orths
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zu, das gehe zu weit, Urlaub sei Urlaub, da gebe es nichts dran zu rütteln. Lynn blickt ihn an und weiß, dass er es ernst meint und dass sie keine Chance hat, ihm zu widersprechen. Sie will sich keine Blöße geben, deutet auf den Rucksack und sagt, sie sei nur noch mal kurz vorbeigekommen, um sich zu verabschieden, Heinz lächelt erleichtert, und dann tritt Lynn aus dem Hotel, ohne zurückzublicken, und geht nach Hause, wo sie den Rucksack in die Ecke stellt und sich in den Sessel fallen lässt und nichts tut, stundenlang einfach nur dasitzt und nichts tut, die Zeit ist nicht zurückzudrehen, denkt Lynn, läuft immer weiter, immer voran, es gibt nur eine Richtung im Leben, die andere Richtung ist Staub. Lynn hat keinen Hunger, trinkt viel Wasser. Irgendwann spricht sie in den Raum hinein, leise, wie zu sich selbst.
    »Chiara?«
    »Ja?«
    »Weißt du, was das Schöne ist am Putzen?«
    »Nein.«
    »Dass es immer wieder dreckig wird.«
    Am Nachmittag hält Lynn nichts mehr. Sie hat die Tickets noch am Bahnhof in einen Mülleimer gleiten lassen und hört von fern, wie ein Echo, die Stimme der Flughafenansage: Last call for flight DE 4156 to Cancún. Please proceed immediately to gate B 43. Last call for passengers Zapatek and Bartholdy.
    Lynn nimmt den Zug.
    Nach vier Stunden ist sie am Heimatbahnhof.
    Im Haus ihrer Mutter brennt Licht.
    An der Tür klebt ihr selbst gemachtes Schild aus Salzteig, Kindergartenzeiten: Linda, Susi und Josef Zapatek. Lynn klingelt, Mutter öffnet ihr. Die Möglichkeit der Umarmung bleibt draußen. Lynn geht durch den Flur, der fremd wirkt, doch viel hat sich nicht verändert. Wann war sie letztmals hier? Wann ist sie mit dem Dreirad den Flur entlanggerast, hat die Vase vom Schuhschrank gerissen und die Worte gehört: Wie oft hab ich dir gesagt? Wann hat sie ihre besten Freundinnen mitgenommen zum Übernachten, die Augen so lange offen, bis sie von selbst zufielen? Wann ist sie heimlich mit ihrem ersten Freund die Treppe hochgeschlichen? Wann ist ihr Vater aus dem Haus? Wie viele Monate hat sie gedacht, der kommt schon zurück? Wann ist sie die Stufen runtergegangen, den Rucksack in der Hand, die Tränen im Gesicht der Mutter? Wann hat sie den Satz gesagt, du musst mich nicht zum Bahnhof bringen?
    »Magst du was trinken?«
    »Danke.«
    »Kaffee?«
    »Nicht mehr so spät.«
    »Wasser?«
    »Mhm.«
    »Warte, ich komm gleich. Setz dich doch.«
    Lynn nickt. Sie wartet. Die Mutter kommt zurück mit einem Teller Plätzchen.
    »Soll ich was kochen?«
    »Nein.«
    »Hast du keinen Hunger?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Oder ein Brot machen?«
    »Ich nehm die Plätzchen.«
    Lynn langt zum Teller, schiebt ein Plätzchen in den Mund, kaut, schluckt die trockene Masse mit reichlich Wasser runter, nächstes Plätzchen, es entsteht schweigendes Knirschen, Lynn greift zum dritten Plätzchen, während Mutter ihr erstes nimmt, wobei sich die Hände nicht berühren, aber nahe kommen, beide lehnen sich wieder zurück und knacken Plätzchen.
    »Die hab ich gestern gebacken.«
    »Sind gut«, sagt Lynn mit vollem Mund.
    »Das ist schön, dass du mich besuchst.«
    Lynn nickt.
    »Ich freu mich.«
    Lynn nimmt das vierte Plätzchen.
    »Ist was passiert?«, fragt die Mutter. »Kann ich was für dich tun? Ist alles in Ordnung? Ist was mit der Arbeit? Hast du wieder, ich meine, was ist los, Lynn? Brauchst du Geld?«
    »Ich kann nicht mehr.«
    »Das wird schon wieder.«
    Lynn schaut zur Mutter.
    Dann sagt sie: »Ich mag kein wieder und kein wird und kein schon.«
    Mutter schweigt. Lynn denkt, sie versteht nicht, was ich sagen will, wie soll ich ihr sagen, was ich sagen will, wir brauchten einen Gefühlsdolmetscher, jemanden, der zwischen uns sitzt und das, was ich sage, in ihre Welt übersetzt, und das, was sie sagt, in meine. Ich sitze hier und weiß selber nicht, weshalb ich hier sitze. Vielleicht liegt alles nur an mir. Sie kann nichts dafür, dass ich so bin, wie ich bin. Vielleicht hat sie sich eine andere Tochter gewünscht. Ist es das, was sie mir nicht sagen kann? Was ich nicht verstehe?
    »Was macht dein Herz?«, fragt Lynn.
    »Das geht schon wieder.«
    »EKG?«
    »Alles in Ordnung, der Bypass hält, die Operation hat gut geklappt. Bypass schreibt man übrigens mit Ypsilon. Ich hab immer gedacht, man schreibt es mit ei, verstehst du, wie bei, aber man schreibt es mit Ypsilon. Das ist Englisch.«
    »Was machst du den ganzen Tag?«, fragt Lynn.
    »Gestern hab ich im Garten gearbeitet.«
    »Du sollst dich doch nicht
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