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Das Werk - 14

Das Werk - 14

Titel: Das Werk - 14
Autoren: Émile Zola
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Zofe, die zweifellos des langen Wartens müde geworden war, nicht mehr gefunden. Und sie erzählte von ihrer Aufregung auf dem Gare de Lyon5, in dieser unbekannten, schwarzen, leeren, zu dieser vorgerückten Nachtstunde bald verödeten Halle. Zunächst hatte sie nicht gewagt, einen Wagen zu nehmen, war in der Hoffnung, daß irgend jemand kommen möge, mit ihrer kleinen Tasche auf und ab gegangen. Dann hatte sie sich dazu entschlossen, aber zu spät, denn es war nur noch ein Kutscher da, der sehr schmutzig aussah, nach Wein stank, um sie herumstrich und sich mit spöttischer Miene anbot.
    »Ja, ein Strolch«, fing Claude wieder an, der nun ganz bei der Sache war, wie im Theater bei einem Schauerstück. »Und Sie sind in seinen Wagen gestiegen?«
    Die Augen auf die Zimmerdecke geheftet, fuhr Christine fort; ohne die Pose aufzugeben:
    »Der hat mich ja gezwungen. Er nannte mich seine Kleine, ich bekam Angst vor ihm … Als er erfuhr, daß ich nach Passy wollte, wurde er böse, er peitschte so heftig auf sein Pferd ein, daß ich mich an den Wagenverschlägen festklammern mußte. Dann beruhigte ich mich ein wenig, die Droschke rollte sanft durch erleuchtete Straßen, ich sah Leute auf den Bürgersteigen. Schließlich erkannte ich die Seine. Ich bin noch nie in Paris gewesen, aber ich hatte mir einen Stadtplan angesehen … Und ich dachte, daß er an den Quais entlangfahren würde, da wurde ich wieder von Angst erfaßt, als ich merkte, daß wir über eine Brücke fuhren. Gerade da fing es an zu regnen, die Kutsche war in eine stockfinstere Gegend eingebogen, und auf einmal hielt sie an. Der Kutscher stieg von seinem Bock herunter und wollte zu mir in den Wagen kommen … Er sagte, es regne zu sehr …«
    Claude fing an zu lachen. Er zweifelte nicht mehr, diesen Kutscher da konnte sie sich nicht ausgedacht haben. Als sie verlegen verstummte, sagte er:
    »Gut, gut! Der Schäker wollte Spaße machen.«
    »Sofort bin ich durch den anderen Wagenschlag auf die Straße gesprungen. Da hat er geflucht, er hat gesagt, wir seien angelangt und er werde mir meinen Hut runterreißen, wenn ich nicht bezahle … Es goß in Strömen, der Quai war völlig menschenleer. Ich verlor den Kopf, ich habe ein Fünffrancsstück herausgenommen, und er hat auf sein Pferd eingepeitscht und ist davongeprescht mit meiner kleinen Tasche, in der sich glücklicherweise nur zehn Taschentücher, eine halbe Brioche6 und der Schlüssel zu meinem Koffer befanden, der noch unterwegs war.«
    »Aber man merkt sich doch die Wagennummer!« rief der Maler entrüstet. Nun entsann er sich, daß er von einer in vollem Tempo davonrasenden Droschke gestreift wurde, als er im strömenden Gewitterregen die Pont LouisPhilippe überquerte. Und er war baß erstaunt darüber, wie unwahrscheinlich die Wahrheit oft anmutet. Was er sich ausgedacht hatte, weil er schlicht und logisch sein wollte, war schön blöde neben diesem natürlichen Ablauf der unendlich vielen Kombinationen des Lebens.
    »Sie können sich ja denken, wie mir zumute war unter dieser Tür!« schloß Christine. »Ich wußte sehr wohl, daß ich nicht in Passy war, ich sollte also diese Nacht in diesem schrecklichen Paris verbringen. Und dieses Donnern und dieses Blitzen, oh, diese Blitze, die ganz blau, ganz rot waren und die mich Entsetzliches sehen ließen!«
    Ihre Lider hatten sich von neuem geschlossen, unter einem Schauer erblaßte ihr Gesicht, sie sah wieder die tragische Stadt, den Ausblick auf die Quais, die sich tief hineinzogen in das Rotglühen des Schmelzofens, das tiefe Bett des Flusses, der bleierne Wasser wälzte, von großen schwarzen Leibern versperrt war, von Lastkähnen, die toten Walen glichen, von reglosen Kränen starrte, die Galgenarme ausstreckten. War das etwa ein Willkommensgruß?
    Schweigen trat ein. Claude hatte sich wieder über seine Zeichnung hergemacht.
    Aber sie bewegte sich, ihr Arm war eingeschlafen.
    »Den Ellbogen etwas tiefer, bitte.« Mit teilnahmsvoller Miene sagte er dann, um sich zu entschuldigen: »Ihre Eltern werden verzweifelt sein, wenn sie von dem Unglück erfahren.«
    »Ich habe keine Eltern mehr.«
    »Was? Keinen Vater, keine Mutter … Sie stehen allein?«
    »Ja, ganz allein.«
    Sie war achtzehn Jahre, und sie war zufällig in Straßburg geboren, wo ihr Vater, Hauptmann Hallegrain, vorübergehend in Garnison lag. Als sie in ihr zwölftes Lebensjahr ging, war dieser, ein Gascogner aus Montauban, in Clermont gestorben, wo ihn zuvor eine Lähmung der Beine gezwungen
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